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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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angegriffen, hatten vor ihnen Angst, zogen sich die Jacke über den Kopf und machten sich davon. Vor Kurzem hatte eine isländische Zeitung eine Fotostrecke veröffentlicht, die zeigte, wie der isländische Ministerpräsident sich vor Hummeln in Sicherheit brachte. Diese Bilder wurden von der Bevölkerung politisch aufgenommen, denn die Hummeln standen für eine sozialverträgliche Gesellschaft – ohne Arm und Reich, erklärte uns der Verleger. Die skandinavischen Länder Dänemark, Finnland, Schweden, die Faröer Inseln und Island hatten nicht umsonst die Hummel als Hauptelement für ihr gemeinsames Wappen gewählt. Sie soll die Überlegenheit der nordischen Länder symbolisieren: allesamt erfolgreiche Volkswirtschaften mit hohen Steuern und einem dichten sozialen Netz.
    Bezüglich der Hummel behaupten einige Biologen, sie dürfe wegen ihres Gewichts und ihrer Flügelgröße eigentlich gar nicht so gut fliegen können, wie sie es tue. Und einige US-Ökonomen behaupten, die skandinavischen Staaten dürften mit ihrer Sozialpolitik eigentlich gar nicht so erfolgreich sein, wie sie es seien. Das machte die Hummeln zu einem Vorbild in puncto Überlebensfähigkeit – nicht nur für Island. Auch in unserer Schrebergartenwelt waren sie autonom und sachkundig. Sie wussten, was jeweils anlag. Ich war doch selbst schon eine alte Hummel – das heißt fast ein Jahr im Schrebergarten. Ich kannte die meisten Gärtner, Wege und Ausgänge östlich des Vereinsheims. Ich wusste, wer auf unserer Seite die dicksten Kartoffeln hatte und sogar, warum. Es machte mir überhaupt nichts mehr aus, wenn mir die suizidgefährdeten Hunde-Invaliden von Frau Krause mit lautem Bellen unter die Räder sprangen. Trotzdem wunderte ich mich jedes Mal noch, wenn ich das hölzerne Aushängeschild unserer Schrebergartenkolonie sah: »Leinenzwang, Fahrradfahren verboten, Betreten auf eigene Gefahr«. Ein Gefühl beschlich mich, als würde man mitten in Berlin eine Staatsgrenze überqueren. Das andere Deutschland lag hinter diesem Schild, ein Deutschland, in dem statt des Grundgesetzes das Kleingartengesetz galt und die Würde jedes Gärtners von der Größe seiner Früchte abhing. Ein Deutschland, das auf keiner Karte eingezeichnet und nirgends auf der Welt diplomatisch vertreten war – ein Hobbitland mit unheimlichen Festen, auf denen sehr kleine Schnäpse mit sehr großen Bieren zusammen getrunken wurden. Man kannte sich hier nie ganz aus. In dem Moment, wo man zu sich sagte, ich bin eine alte Hummel, ich kenne Deutschland wie meine eigene Westentasche, wurde einem plötzlich ein ganz anderes, völlig unbekanntes Deutschland präsentiert. Es reichte manchmal schon, nur mal eben kurz um die Ecke zu biegen, ohne Vorwarnung zu wenden, von der gewohnten Route abzukommen oder auf längst Bekanntes etwas aufmerksamer zu schauen – und schon offenbarte sich einem eine völlig fremde Landschaft beziehungsweise Lebensart. Es gab mehrere Deutschlands. Es gab ein Deutschland, in dem sich die Menschen regelmäßig mit Äpfeln überfraßen, bis sie Hautausschlag bekamen, und es gab zum Beispiel eins, in dem alte Menschen mit Holzgewehren von Haus zu Haus marschierten, mit Schrotflinten auf eine Plastikente schossen und Getränke meterweise bestellten.
    »Mein Leben als Schützenkönig  wäre bestimmt ein spannendes Buch. Das schreibe ich als Nächstes, wenn ich mit dem Schrebergartenroman fertig bin«, sagte ich zu meinem Nachbarn Herrn Krause, der so freundlich war, mir die Leiter zu halten. Kaum war mein amerikanischer Freund weg, ging nämlich die Ernte wieder weiter.
    Wir kriegen das hin, beruhigte ich mich.
    Das Eindringen der Äpfel in alle Lebensbereiche war deutlich zu spüren. Einen Rucksack voller Äpfel schleppte ich in die Russendisko, wo er innerhalb von Minuten geleert wurde. Natürlich nahm mir auch Günther Grass zwei Eimer ab, jetzt waren die Krauses an der Reihe.
    Er fände ein Schützenkönigbuch keine so gute Idee, rief Herr Krause nach oben. Er mochte dieses Deutschland der Volksfeste nicht, hatte es noch nie leiden können. Als Junge war er gezwungen worden, bei Volksfesten in seinem niedersächsischen Dorf Trompete zu spielen. Die Männer tranken dabei Lüttje Lagen, ein Getränk, das wie eine Wasserfallkaskade funktioniert, indem ein Schnaps in ein Bier fließt und das Bier in den Mund. Man muss dazu sagen, dass Schnaps mit Bier grundsätzlich das Lieblingsmixgetränk des Deutschen ist, nur mixt man es in jedem Bundesland anders. Die
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