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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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»Schau bloß nicht nach unten, bloß nicht nach unten gucken«, sagte ich noch zu mir – und schaute nach unten. Meine gesamte Schulklasse stand vor dem Zaun, angeführt von unserer Klassenlehrerin Frau Krut, die einen Holzkorb in der Hand hielt, und den beiden toten Trinkern. Ich sagte »Hallo« und fiel vom Baum.
    In der Realität bekam ich ebenfalls Besuch, mein Schulkamerad Andrej, der Aushilfshausmeister im Hippie-Altersheim in San Francisco ist, war nach Berlin gekommen und wohnte zwei Tage bei mir. Vor dreizehn Jahren war er aus Neugier mit einem Touristenvisum nach Amerika eingereist und hatte sich in San Francisco niedergelassen. Amerika wurde für ihn zu einem schönen Knast. Ohne richtige Aufenthaltserlaubnis konnte er dort leben, arbeiten, Auto fahren und Steuern zahlen, aber er durfte Amerika nicht verlassen. Nach dreizehn Jahren bekam er endlich die Staatsangehörigkeit und durfte nun fast überall hin und ohne Visum verreisen wie ein normaler Amerikaner. Andrej genoss diese neue Reisefreiheit und nahm sich extra zwei Monate Urlaub, um sie voll auszukosten. Ich hatte keine Zeit, ihn durch Berlin zu führen, dafür organisierte ich einen Spaziergang durch die Schrebergartenkolonie – mit einem anschließenden Dartspiel im Vereinsheim.
    Andrej erzählte wenig von seinem Leben, immer wieder beschwerte er sich über die emanzipierten amerikanischen Frauen, die er wegen ihrer selbstsicheren Art nicht mochte. Aber alle seine Versuche, stattdessen eine Landsfrau via Internet kennenzulernen, endeten im Desaster. Als Aushilfshausmeister hatte Andrej wenig Aussicht auf eine lukrative Karriere. San Francisco war eine politisch korrekte Stadt. »Eine richtige Hausmeisterstelle kannst du nur als schwuler Chinese mit nachweisbarer Diskriminierung daheim ergattern«, erklärte er mir. Als Aushilfshausmeister verdiente er jedoch auch nicht schlecht: fünfundzwanzig Dollar die Stunde. Das Geld ging fast vollständig für seine Internetbekanntschaften drauf, die alle aussahen wie Julia Roberts.
    Andrej wurde angeblich ständig von diesen Internet-Bräuten geprellt. Einmal lernte er eine schöne junge Julia Roberts aus der Ukraine im Netz kennen. Sie erzählte, ihr Bruder, ein Bergarbeiter, sei gerade verschüttet worden, der ukrainische Staat ließe seine Menschen schnöde im Stich, deswegen bräuchte sie dringend fünfhundert Dollar, um den Bruder sozusagen eigenhändig auszugraben. Andrej schickte ihr das Geld per Express. Auf diese Weise hat er schon unzählige Leben gerettet – Kinder, Väter und Brüder von vielen Julia Roberts, die wahrscheinlich gar keine Frauen waren, schon gar keine Landsfrauen, sondern bloß Internetprogramme, extra gemacht, um solche Deppen wie Andrej um ihren Aushilfshausmeisterlohn zu prellen. Aber er lässt sich anscheinend gerne von Julia Roberts täuschen.
    Im Schrebergarten erntete Andrej interessierte Blicke der Nachbarn, vor allem wegen seines T-Shirts. Darauf waren Indianer mit Pfeil und Bogen in ihrer Nationaltracht gedruckt. Darunter stand: Homeland Security. Fighting Terrorism since 1814 . »Wir sind gegen Bush und gegen den Irakkrieg«, erläuterte mir Andrej die sozusagen offizielle Position der Bürger von San Francisco. Er persönlich war mit der aggressiven Politik der Amerikaner auch nicht einverstanden, fand Bush aber menschlich in Ordnung. »Ein Politiker muss eine Macke haben, eine Schwäche für irgendwas«, meinte er. »Sonst werden sie in ihrem Ernst schnell unerträglich, wie in Deutschland.«
    Hier wirken Politiker oftmals wie freundliche Roboter. Sie sagen immer das Richtige, immer mit der gleichen Betonung, sie haben keine Affären, keine Leidenschaften, keine Hobbys, die sie menschlicher wirken lassen. Manchmal stolpern sie ungeschickt vor dem Auftritt über ein Fernsehkabel oder fallen von der Bühne, stehen aber sofort lächelnd wieder auf – nicht einmal ihrer Frisur ist etwas anzumerken. Ihre russischen Kollegen sind anders, sie zeigen sich gerne menschlich, temperamentvoll, sind sportlich, aber auch zerbrechlich. Wenn sie über ein Kabel stolpern, stehen sie in der Regel nie mehr auf. Ihre Hobbys sind landesweit bekannt. Der russische Präsident lässt sich beim Judokämpfen filmen, auch wenn er gerade gegen stärkere Gegner antritt, die ihn in aller Öffentlichkeit zu Boden schleudern. Etliche russische Minister schreiben Gedichte und lassen sie in Zeitungen abdrucken, andere interessieren sich fürs Boxen, oder sie spielen Schach. Der Moskauer
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