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Das zweite Leben

Das zweite Leben

Titel: Das zweite Leben
Autoren: James White
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DAS ZWEITE LEBEN
     
1.
     
    Eine Zeitlang wußte er nur, daß er existierte. Es war furchtbar kalt. Erst allmählich spürte er Wärme in seinem Bewußtsein, die sich ausbreitete und die vereisten Kanäle seiner Erinnerung und Wahrnehmung auftaute.
    Ross wachte auf, wie er schon so oft aufgewacht war. Immer dann waren die Alpträume gekommen. Ross versuchte sich einzureden, daß dies unmöglich war, während sich sein Bewußtsein klärte. Zuerst die Alpträume, dann das Erwachen – dies war die richtige Reihenfolge. Und doch war die Erinnerung da. Sie war so stark, daß Ross sekundenlang in Panik verfiel. Dann war der Wiederbelebungsprozeß beendet. Ross konnte hören – und er sah Beethoven.
    Irgend jemand hatte die Büste so realistisch angemalt, daß der Tiefschläfer einen Augenblick lang glaubte, den wirklichen Beethoven zu sehen, doch es war immer noch die gleiche Büste, die in Pellews Sprechzimmer gestanden hatte.
    Was hatte sie hier zu suchen? Pellew war kein Mann, der Scherze machte. Wer steckte dann dahinter? Waren auch die Alpträume nur ein makabrer Scherz gewesen?
    Als ob die Flut auf ihn einströmender Gefühle und Fragen zuviel auf einmal für einen gerade Erwachten gewesen wäre, schoben sich noch einmal Schleier vor Ross’ Erinnerung. Wer war Pellew? Wer hatte die Büste hierhergeschafft, und wo befand er sich überhaupt?
    Beethoven begann zu sprechen.
    »Sobald der Patient das Bewußtsein zurückerlangt hat«, hörte Ross, »ist es von größter Wichtigkeit, daß er keine hastigen Bewegungen macht. Diese könnten im augenblicklichen Stadium schwere Muskelschäden zur Folge haben. Er oder sie darf sich nur langsam bewegen. Außerdem muß der Patient wissen, daß er geheilt worden ist … geheilt worden ist … geheilt worden ist …«
    Wie eine Schallplatte mit einem Sprung hallten immer wieder die gleichen Worte im Ohr des Tiefschläfers. Die Stimme erinnerte Ross wieder an Pellew. Beethoven redete in dozierendem Tonfall.
    Als Ross die sich endlich wiederholende Botschaft nicht mehr ertragen konnte, schrie er: »Aufhören! Ich glaube es ja!«
    Augenblicklich verstummte die Stimme. Ross fühlte einen sich verstärkenden Druck am Hinterkopf und in den Schultern. Brust, Nacken und Beine schmerzten höllisch, als Ross merkte, daß er aufgerichtet wurde. Die gepolsterte Liege, auf der er zu sich gekommen war, teilte sich. Die hintere Hälfte schob sich langsam in die Höhe, während die vordere etwa in Höhe der Knie nach unten sank, so daß Ross in eine sitzende Position gebracht wurde. Wer immer dafür verantwortlich war – er ging vorsichtig mit dem Patienten um, und doch hätte Ross vor Schmerzen laut losgeschrien, wenn er nicht gewußt hätte, daß er dadurch alles noch schlimmer machte.
    Endlich saß er aufrecht. Ein Gurt hielt ihn fest. Er konnte ihn nur fühlen, denn von einem Augenblick zum anderen wurde es dunkel. Wieder hörte er die Stimme:
    »Für Langzeitpatienten wird es psychologische Schwierigkeiten geben. Sie erwachen in einer für sie völlig fremden Umgebung. Der Patient sollte etwas ihm Vertrautes vorfinden, eine bekannte Person oder einen Gegenstand, um die Angst zu nehmen …«
    Ross blinzelte so lange mit den Augen, bis er wieder einigermaßen gut sehen konnte. Er befand sich in einem kleinen Raum, der außer dem Gestell, auf dem er saß, ein Bett enthielt, einige Wandschränke und einen fahrbaren Instrumententisch mit der sprechenden Büste, drei glänzende Büchsen und seiner Brieftasche mit dem Bild von Alice darauf. Der Boden war mit Schaumgummi ausgelegt.
    »Der Patient muß so bald wie möglich Nahrung zu sich nehmen und erste vorsichtige Bewegungsübungen machen. Zu diesem Zweck befindet sich in Reichweite seiner Hände Flüssignahrung … Flüssignahrung … Flüssignahrung …«
    »Ist schon gut!« preßte Ross hervor und griff nach einer der Büchsen. Er fragte sich, wer sich diesen Unsinn hatte einfallen lassen. Er hatte überhaupt keinen Hunger, aber er mußte wohl alle gegebenen Anordnungen befolgen, um den Quälgeist zum Schweigen zu bringen.
    Die Büchse erwärmte sich, als er sie vorsichtig berührte. Dann platzte der Deckel auf, wobei ein Teil des Inhalts auf Ross’ nackte Beine spritzte. Die Flüssigkeit roch nicht nur sehr gut, sie schmeckte auch, und bald spürte Ross, wie sich wohltuende Wärme über seinen ganzen Körper ausbreitete.
    »Flüssignahrung …«, plärrte Beethoven, als Ross ausgetrunken hatte. »Flüssignahrung … Flüssignahrung
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