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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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einen nehmen dafür ein dunkles, die anderen ein helles Bier. Mal werden der Schnaps und das Bier gleichzeitig, mal nacheinander geschluckt, nur das Ergebnis ist immer gleich. In Berlin versenkt man meines Wissens den Schnaps im Bier.
    Herr Krause hasste nicht nur das Trompetespielen, auch der Spaß des Schützenfestes blieb ihm verborgen. Er bewunderte aber die Durchsetzungskraft und die Widerstandsfähigkeit der alten Traditionen. Früher dachte er, wenn die Alten tot wären, würden sich die Jungen schämen, in diesen idiotischen Kostümen herumzulaufen, das Wochenende durchzusaufen und dämliche Volkslieder zu singen. Niemand würde diesen Quatsch mehr mitmachen wollen, man würde von dieser Pein nur noch aus Geschichtsbüchern erfahren, so hatte Herr Krause gedacht, damals ein pummeliger Knabe, der mit voller Kraft in die Trompete blies. Doch vor Kurzem besuchte er sein Heimatdorf und sah dabei viele junge Leute, die mit Schrotflinten auf einen Holzadler schossen und dabei großen Spaß zu haben schienen. Auch traf er seine ehemaligen Schulkameraden, Leute, die früher nach Holland gefahren waren, um dort in entspannter Atmosphäre einen Joint zu rauchen, die für ihr Dorf nur Verachtung gefunden und die Tage gezählt hatten, bis sie weggehen konnten. Nun feierten sie begeistert den frisch gewählten Schützenkönig. Nur die Musik hatte sich geändert. Man hörte jetzt öfter die »Scorpions« auf Schützenfesten, meinte Herr Krause.
    Die kulturelle Rückständigkeit lässt sich durch den Fortschritt nicht bekämpfen. Selbst wenn morgen fremde Planeten erobert und besiedelt werden müssten, hätte man spätestens in einem Jahr den ersten Schützenverein auf dem Mars und irgendwelche traditionsbewussten Bayern oder Niedersachsen, die mit Holzgewehren und Schnapsflaschen von Krater zu Krater marschieren. Spätestens nach der zweiten Pubertät würde man in Deutschland konservativ, patriotisch und traditionsbewusst, meinte mein Nachbar. Er selbst blieb allerdings den Überzeugungen seiner Jugend treu. Er wollte noch immer nicht Trompete spielen und ekelte sich vor folkloristischen Fernsehsendungen, in denen alte Männer und Knaben mit Blasinstrumenten auftraten. Überhaupt Sendungen, bei denen in den Werbepausen Menschen gezeigt wurden, die einen Fahrstuhl brauchten, um von der Küche ins Schlafzimmer zu gelangen, Menschen, die sich über ein Abführmittel freuten, das einen sanften, aber pünktlichen Stuhlgang garantierte, Menschen, die gesundheitlich geschwächt aussahen und geistig instabil – kein Wunder nach so viel Bier und Trompete. Solche Musiksendungen erinnerten Herrn Krause an seine eigene Kindheit. Er nannte sie verächtlich »Altersheimmusik«.
    »Wenn wir ins Altersheim kommen, wird dort nur noch Rock ’n’ Roll gespielt, da wackeln die Wände«, versprach mir Herr Krause.
    Ab 2030 wird in Altersheimen nur noch Rock ’n’ Roll gespielt, Hard Rock und Heavy Metal, ab 2040 Breakdance, ab 2050 Techno, später Hiphop. Der Fortschritt ist unaufhaltsam und unausweichlich, pünktlich, aber sanft. Ich kenne viele junge Leute in Berlin, die in Altersheimen als Pflegebruder oder -schwester arbeiten. Dort werden immer Arbeitskräfte gebraucht, der Pflegedienst ist sowieso die Branche der Zukunft mit Wachstumsprognosen, die jeden Computerhersteller oder Maschinenbauer alt aussehen lassen. Die Pflegebrüder und -schwestern teilen mir gelegentlich mit, was für eine wichtige Rolle die Musik im Altersheim spielt. Ein Freund von mir, der mit Alzheimerpatienten zu tun hat, erzählte zum Beispiel, wie leidenschaftlich gern sie singen. »Es sind Leute unter ihnen, die ihre Nach- und Vornamen vergessen haben, sie haben vergessen, wie ihre Kinder aussehen, was sie ihr Leben lang gemacht haben und wie der Planet heißt, auf dem sie leben. Aber ›Die kleine Kneipe‹ von Peter Alexander und ›Griechischer Wein‹ haben sie nicht vergessen. Als wären diese Zeilen ihnen direkt ins Herzen gebrannt, auf die Seele, an unzerstörbare Orte, die für keine Krankheit erreichbar sind. Sie singen ihre Lieblingslieder gern vor dem Frühstück, während des Frühstücks und nach dem Frühstück. Sie vergessen, dass sie sie gerade eben gesungen haben, und singen sie immer wieder, bis die Toleranz der nichtsingenden Nachbarn und des Personals erschöpft ist und die Sänger in ihre Zimmer gesperrt werden.«
    Das Deutschland der Altersheime, der Schützenvereine, der Dauercamping-Areale und der Schrebergärten ist letztendlich nicht
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