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Mein Leben im Schrebergarten

Mein Leben im Schrebergarten

Titel: Mein Leben im Schrebergarten
Autoren: Wladimir Kaminer
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schwer zu erkunden. Fast jeder kommt früher oder später damit in Berührung. Ich habe einmal bei einem Japaner ein viel selteneres Deutschland gesehen – ein Deutschland aus Porzellan. Was zum Teufel knipsen die Japaner hier eigentlich?, fragte ich mich jedes Mal, wenn eine Reisegruppe mit Fotoapparaten an mir vorbeizog. Sie knipsten wirklich wie verrückt nach allen Seiten, selbst dort, wo gar nichts war, machten sie ein Foto. Der knipsende japanische Tourist ist zum Weltklischee geworden, jeder hat ihn schon einmal irgendwo gesehen, aber hat irgendwer auch nur ein Foto gesehen, das von ihm geschossen wurde? Jedenfalls niemand, den ich kenne. Deswegen dachte ich lange Zeit, die Japaner hätten gar keinen Film in ihren Kameras, beziehungsweise keine Digitalspeicherkassette. Sie knipsten einfach so – aus Höflichkeit, damit die Einheimischen nicht denken, sie würden sich von ihren Sehenswürdigkeiten und Denkmälern nicht angesprochen fühlen. Die ständige Knipserei sei eine Geste des Respekts dem fremden Land gegenüber – je peinlicher und unbedeutender die Denkmäler seien, umso mehr würden sie sie fotografieren.
    Möglich wäre natürlich auch, dass die Japaner doch auf Digitalspeicherkassette, also quasi echt, fotografieren. Aber kaum überqueren sie die Grenze, löschen sie den ganzen Mist. Es könnte natürlich auch sein, dass sie die Fotos tatsächlich mit nach Japan nehmen, sie sortieren, katalogisieren, archivieren und überall in ihren kleinen Wohnungen aufbewahren. Im Schrank, auf dem Fensterbrett und unter dem Sofa. Am Wochenende holen sie die Fotos heraus und gehen in Fotoklubs, wo sie ihre eigenen Bilder mit denen der anderen vergleichen und manchmal auch Fotos untereinander tauschen: Paris gegen Berlin oder Moskau gegen New York. Oder sie ziehen zusammen und gründen Familien, um ihre Fotosammlungen zu verdoppeln. Wenn sie irgendwann keine Arbeit haben und das Leben hart wird, können sie noch immer ihre Fotosammlung auf den großen Fotoauktionen in Kobe und Yokohama anbieten. Und wenn sie sterben, werden sie nach einem alten japanischen Brauch mit ihren Fotos bestattet beziehungsweise eingeäschert, sodass ihre Erinnerungen mit ihnen gehen und sie sich auch im Himmelreich ihre Fotos ansehen können – den Kreml, den Reichstag, die Freiheitsstatue.
    Doch das alles sind bloß haltlose Vermutungen. In Wirklichkeit knipsen die Japaner das, was die Einheimischen nicht sehen. Die Japaner sind schwermütig und sentimental, kleine zerbrechliche Dinge reizen sie sehr. Sie knipsen zum Beispiel sehr gerne Schnecken auf alten Mauern, Wassertropfen auf hundertjährigen Kastanienbäumen, kleine graue Spatzen auf einem Denkmal. Am liebsten knipsen die Japaner aber Porzellan. Dafür fahren sie nach Meißen, die Hauptstadt von Porzellandeutschland. Diese Stadt mit einer Burg, einem Dom und einer Porzellanmanufaktur ist klein und zerbrechlich, genauso, wie die Japaner es mögen. Porzellantourismus ist Tagestourismus, die Japaner kommen am frühen Vormittag, knipsen alles durch und fahren am späten Nachmittag wieder weiter. Sie bleiben nie über Nacht in Meißen, sehr zum Ärger der dortigen Kneipen- und Hotelbesitzer. Sie hätten die Japaner noch gerne mit dem selbst gebrauten Bier abgefüllt und auf Sächsisch gefüttert. Aber die Japaner interessieren sich eben nur für Porzellan. Deswegen steht die Meißner Brauerei jedes Jahr kurz vor der Insolvenz, und jedes Jahr im Sommer heißt es dann für die Einheimischen: Die Brauerei muss gerettet werden. Die Abende werden länger, der Weg nach Hause anstrengender, denn man darf in Meißen nicht zu sehr torkeln, sonst geht alles kaputt.
    Die Einheimischen haben sich inzwischen an den Porzellantourismus gewöhnt, nur einmal ließen die Japaner die Stadt völlig im Stich – als die Elbe ausuferte und etliche Straßen in den unteren Stadtteilen überflutet waren. Das Jahrhunderthochwasser, eine Naturkatastrophe höchsten Grades, sorgte für abenteuerliche Tage in Meißen. Zwei Wochen lang gab es keinen Strom, und die seit der Wiedervereinigung mit Sonderangeboten prall gefüllten Tiefkühltruhen fingen an aufzutauen. Die Stadtbewohner grillten ununterbrochen, es war wie bei einem nicht enden wollenden Volksfest, das aus Versehen auf zwei Wochen verlängert worden war. Die Porzellantouristen mögen aber keine Volksfeste, sie mieden die Stadt. Stattdessen kamen die Katastrophentouristen. Das sind Menschen wie du und ich, die es dorthin zieht, wo andere leiden. Sie
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