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Verliere nicht dein Gesicht

Verliere nicht dein Gesicht

Titel: Verliere nicht dein Gesicht
Autoren: Scott Westerfeld
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     New Pretty Town

     

     Der Frühsommerhimmel hatte die Farbe von Katzenkotze.
     Natürlich, dachte Tally, müsste man der Katze eine Zeit lang Katzenfutter mit Lachsgeschmack geben, um die richtigen Rosatöne zu erhalten. Die Wolkenfetzen wirkten ein bisschen zerzaust, sie wurden von einem Wind hoch oben durcheinandergewürfelt. Als das Licht verschwand, klaffte tiefblaue Nacht dazwischen hervor, wie ein umgestülpter Ozean, bodenlos und kalt.
      In jedem anderen Sommer wäre so ein Sonnenuntergang wunderschön gewesen. Aber nichts war mehr schön, seit Peris hübsch geworden war. Es ist einfach ätzend, den besten Freund zu verlieren, und wenn es nur für drei Monate und zwei Tage ist.
            ***
      Tally Youngblood wartete auf die Dunkelheit.
      Sie konnte durch ihr offenes Fenster New Pretty Town sehen. In den Partytürmen brannte schon Licht, und Prozessionen aus flackernden Fackeln zogen sich wie Schlangen durch die Vergnügungsparks. Einige Heißluftballons ruckten vor dem dunkler werdenden rosa Himmel an ihren Halteseilen, die Fahrgäste beschossen andere Ballons und vorübergleitende Drachenflieger mit Sicherheitsfeuerwerk. Lachen und Musik hüpften wie Kieselsteine über das Wasser, und ihre Kanten kratzten an Tallys geschundenen Nerven.
      Die Außenbezirke, die vom schwarzen Oval des Flusses von der Stadt abgeschnitten waren, lagen im Dunkeln. Alle Hässlichen waren schon zu Bett gegangen.
      Tally streifte ihren Interface-Ring ab und sagte: "Gute Nacht."
      "Träum süß, Tally", antwortete das Zimmer.
      Sie zerkaute eine Zahnputzpille, klopfte ihre Kissen zurecht und schob ein altes tragbares Heizgerät - eines, das ungefähr so viel Hitze produzierte wie ein schlafender Mensch von Tallys Größe - unter die Decken.
      Dann kletterte sie aus dem Fenster.
      Draußen, unter dem Nachthimmel, der sich endlich kohlschwarz färbte, fühlte Tally sich sofort besser. Vielleicht war das hier ein idiotischer Plan, aber ihr war alles lieber als eine weitere durchwachte Nacht voller Selbstmitleid. Als sie auf dem vertrauen Pfad zum Ufer ging, fiel es ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie Peris sich hinter ihr herschlich und dabei sein Lachen unterdrückte, bereit einmal mehr die neuen Hübschen auszuspionieren. Zusammen. Sie und Peris hatten mit zwölf herausgefunden, wie man die Haushüter austrickste, damals, als sie sich nicht vorstellen konnten, dass die drei Monate Altersunterschied jemals eine Rolle spielen würden.
      "Freunde fürs Leben", murmelte Tally und betastete die winzige Narbe in ihrer rechten Handfläche.
      Das Wasser glitzerte durch die Bäume und sie konnte die Wellen hören, die von einem Rennboot ausgelöst worden waren und jetzt ans Ufer schwappten. Sie duckte sich hinter das Schilfrohr. Der Sommer war immer die beste Zeit für diese Spionageausflüge. Das Gras war hoch, es war niemals kalt und man brauchte am nächsten Morgen nicht in der Schule wach zu bleiben.
      Peris konnte jetzt natürlich so lange schlafen, wie er wollte. Das war nur einer der Vorteile, die die Pretties genossen.
      Die alte Brücke thronte massiv über dem Wasser und ihr gewaltiger Eisenrahmen war so schwarz wie der Himmel. Sie war vor so langer Zeit gebaut worden, dass sie ihr eigenes Gewicht trug, ohne irgendwelche Unterstützung von Hubträgern. In einer Million Jahre, wenn die restliche Stadt zerfallen wäre, würde die Brücke vermutlich noch immer wie ein Knochenfossil hier aufragen. Anders als die anderen Brücken, die nach New Pretty Town hinüberführten, konnte die alte Brücke nicht sprechen - oder, was wichtiger war, Leute melden, die sie unbefugt überquerten. Aber auch wenn sie stumm blieb, so war die Brücke Tally doch immer als weise erschienen, wie ein uralter Baum, Tallys Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt und sie brauchte nur wenige Sekunden, um die am üblichen Stein befestigte Angelschnur zu finden. Sie zog daran und hörte, wie das Seil aus seinem Versteck zwischen den Brückenpfeilern ins Wasser platschte. Sie zog immer weiter, bis die unsichtbare Angelschnur sich in einen nassen, verknoteten Strick verwandelt hatte. Das andere Ende war noch immer am eisernen Bogenwerk der Brücke befestigt. Tally zog den Strick straff und band ihn an den üblichen Baum.
      Sie musste sich ein weiteres Mal ins Gras ducken, als wieder ein Rennboot vorüberjagte. Die Menschen, die dort an Deck tanzten, sahen den Strick nicht, der sich von der Brücke zum
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