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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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sich zu sehr durch die Tatsache beeindrucken, daß jemand die systematische Satire für einen ernsten politischen Zweck wieder aufleben ließ. Seine kritischen Aufsätze sind fast immer ausgezeichnet, zuweilen aber werden sie den Ansprüchen des Themas nicht gerecht, so zum Beispiel der Aufsatz über Dickens. Und wenn sie hervorragend sind, dann hauptsächlich durch die wirkliche Schlichtheit des Orwellschen Geistes, seine einfache Fähigkeit, die Dinge auf eine gradlinige täuschungslose Art zu betrachten. Er dient anscheinend nicht irgendeinem kühnen ›Daimon‹, sondern den einfachen, soliden Göttern der Schulbuchweisheiten. Er ist kein Genie – welche Erleichterung! Wie ermutigend! Denn er gibt uns das Gefühl, daß jeder von uns das hätte tun können, was er tat.
    Oder was wir tun könnten, wenn wir uns nur dazu entschlössen; wenn wir nur ein wenig von der Heuchelei ablegten, die uns tröstet; wenn wir nur ein paar Wochen lang der kleinen Gruppe, mit der wir gewöhnlich unsere Meinungen austauschen, keine Beachtung schenkten,- wenn wir das Risiko eingingen, unrecht zu haben oder unvollkommen zu sein,- wenn wir nur die Dinge einfach und direkt betrachteten; nur darauf bedacht, herauszufinden, was sie wirklich sind, ohne Rücksicht auf das Prestige unseres großen intellektuellen Bemühens, sie zu betrachten. Er befreit uns. Er sagt uns, daß wir unser politisches und soziales Leben verstehen können, indem wir uns einfach umschauen, er befreit uns von der Sucht nach vertraulichen Informationen. Er gibt uns zu verstehen, daß es nicht unsere Aufgabe ist, intellektuell zu sein, gewiß nicht nach dieser oder jener Mode, sondern lediglich so intelligent, wie es in unseren Kräften liegt. Er erneuert die alte Bedeutung der Demokratie des Geistes. Er befreit uns von dem Glauben, daß der Geist nur auf eine technische berufsmäßige Weise arbeiten kann und daß er im Wettbewerb stehen muß. Er bringt es fertig, uns glauben zu machen, daß wir vollwertige Mitglieder einer Gesellschaft denkender Menschen werden können. Auf diese Weise ist er für uns eine Gestalt. Indem ich so von Orwell spreche, will ich nicht andeuten, daß bei seiner Geburt lediglich die Götter der Schulbuchweisheiten und keineswegs gute Feen anwesend waren oder daß er keinen ›Daimon‹ besaß. Die guten Feen gaben ihm schon sehr feine freie Geschenke. Und er hatte einen starken ›Daimon‹, doch von altmodischer Art. Dieser ›Daimon‹ drängte ihn zu dem Paradox – so ist nun einmal unsere Zeit –, die Götter der Schulbuchweisheiten ernst zu nehmen und sein Talent in ihren Dienst zu stellen. Orwell war für Wahrheiten verschiedener Art empfänglich, sowohl für die bitteren, gelehrten Wahrheiten der modernen Zeit wie auch für die älteren und einfacheren Wahrheiten. Er hätte wohl verstanden, was Karl Jaspers meint, wenn er den Entschluß empfehlt, »auf alle absoluten Ansprüche des europäischen humanistischen Geistes zu verzichten und ihn lieber als eine Entwicklungsstufe denn als einen lebendigen Glaubensinhalt zu betrachten«. Doch an dieser Entwicklung war er nicht interessiert. Ihm ging es um das Überleben, und er verband es mit den alten, einfachen Ideen, die häufig gar keine Ideen sind, sondern Glaubenssätze, Vorlieben und Vorurteile. In der modernen Welt besaßen sie für ihn den Charme und die Kühnheit neuentdeckter Wahrheiten. Wir, die wir so oft, wenigstens in unserem literarischen Leben, in einer bitteren Metaphysik der menschlichen Natur verfangen bleiben, sind schockiert und entsetzt, wenn Orwell so etwas wie Verantwortung, Ordnung im persönlichen Leben, ›fair play‹ und körperliche Tapferkeit preist – oder sogar Snobismus und Heuchelei, weil sie helfen, die auseinanderbrechenden Wälle unseres sittlichen Lebens zu stützen.
    Es ist schwierig, in der zeitgenössischen Welt Persönlichkeiten zu finden, die Orwell gleichen. Wir müssen nach Männern Ausschau halten, die eine erhebliche intellektuelle Kraft besitzen, die sich aber in dem organisierten Leben der Betonung des Verstandes nicht glücklich fühlen,- die ein Gefühl für eine ältere und einfachere Zeit haben und ein pilotenhaftes Bewußtsein für das einfache Leben des Volkes, jedoch ohne den Hauch der sentimentalen Arglist des Populismus 1 . Persönlichkeiten, die einen starken Sinn für Alltäglichkeiten besitzen und einen direkten, uneingeschüchterten Sinn für das Vaterland, sogar eine bewußte Liebe dafür. Hier erinnert man sich an Peguy und
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