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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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einfach und wahr ist, als wir sie uns wünschen möchten. Aber der sittliche Ton in Orwells Buch ist ungewöhnlich einfach und wahr. Wenn Orwell sich über bestimmte politische Tatsachen vergewissert, führt das bei ihm weder zu einem Gesinnungswechsel noch zu einer Seelenkrise. Was seine Erfahrungen in Spanien ihn lehrten, schmerzte ihn natürlich sehr und bewog ihn, seine Verhaltensweise zu ändern. Aber es zerstörte ihn nicht, es brachte nicht, wie die Leute sagen, den Boden unter ihm zum Wanken. Es zerschmetterte weder sein Vertrauen in das, was er früher geglaubt hatte, noch schwächte es seine politischen Motive oder änderte deren Richtung. Es verursachte keinen Augenblick des Schuldgefühls oder der Selbstbezichtigung.
    Vielleicht sollte das nicht so sehr bemerkenswert erscheinen. Wer kann jedoch bezweifeln, daß es in unserer Zeit einen wahren sittlichen Triumph darstellt?
    Es deutet darauf hin, daß Orwell ein ungewöhnlicher Mensch war, daß er eine Geistes- und Seelenhaltung hatte, die heute selten ist, obgleich wir immer noch dafür empfänglich sind, wenn wir ihr begegnen.
    Über diesen Menschen und diese Geistes- und Seelenhaltung sollte ein Wort gesagt werden.
    Durch einen Zufall kam an dem Tage, an dem ich einwilligte, diese Einleitung zu schreiben, sogar in dem Augenblick, als ich zum Telefon greifen wollte, um es dem Verleger mitzuteilen, ein junger Mann, einer meiner Studenten, zu mir, um mich zu fragen, was ich davon hielte, wenn er ein Essay über Orwell schriebe. Meine Antwort war natürlich fertig, und als ich sie ihm mitgeteilt und wir über den Zufall gelacht und uns amüsiert hatten, setzten wir uns hin, um über unser gemeinsames Thema zu plaudern. Ich bat ihn jedoch, nicht über Orwell zu sprechen. Ich wollte meine Gedanken nicht durch ein Gespräch verwässern, und ich wollte meine Gedanken auch nicht mit seinen, vermischen, die sicher sehr gut waren. So tauschten wir eine Weile bibliographische Informationen aus, indem wir einander fragten, welche von Orwells Büchern wir gelesen hatten und welche wir besaßen. Dann aber sagte er plötzlich auf eine sehr einfache und selbstverständliche Weise, als ob er nicht widerstehen könne, wenigstens eine Bemerkung über Orwell selbst zu machen: »Er war ein tugendhafter Mensch.« Und wir saßen da, stimmten in allen Einzelheiten mit dieser Feststellung überein und empfanden eine seltsame Freude, uns darüber zu unterhalten. Von einem jungen Menschen war es heutzutage eine ungewohnte Feststellung. Ich glaube, gerade das Ungewohnte dieser Bemerkung machte sie so interessant für uns – die Pointe lag darin, daß es altmodisch war, so etwas zu sagen. Seine Feststellung war altertümlich in ihrem kühnen Gefühlsausdruck, und er benutzte ein altertümliches Wort mit einer altertümlichen Schlichtheit. Unsere Freude war nicht rein literarisch, nicht allein eine Reaktion auf eine Bemerkung, die so gut zu Orwell paßte, der tatsächlich eine Eigenschaft aus einer früheren Zeit besaß. Wir waren froh, daß man so etwas überhaupt von irgend jemand sagen konnte. Eine Gelegenheit dafür bietet sich nicht sehr häufig. Nicht, als ob es keine guten Menschen gäbe, aber es gibt nur wenige Menschen, die nicht nur gut sind, sondern die Einfachheit, Stärke und Tatkraft besitzen, die uns erlauben, so von ihnen zu sprechen. Denn von einem Menschen zu sagen, er sei »gut«, oder sogar von ihm als »tugendhaft« zu reden ist nicht dasselbe, wie zu sagen: »Er ist ein tugendhafter Mensch.« Durch eine plötzliche Fügung der Sprache bringt diese Satzkonstruktion die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »tugendhaft« zum Vorschein: nicht nur sittliche Rechtschaffenheit, sondern Standhaftigkeit und Stärke.
    Diese Eigenschaft, die es uns erlaubt, von Orwell zu sagen, daß er ein tugendhafter Mensch war, macht ihn zu einer Gestalt in unserer Welt. Er war kein Genie, und gerade das ist so bezeichnend für ihn. Daß er kein Genie war, ist ein Bestandteil der Eigenschaft, die ihn zu dem macht, was ich eine Gestalt nenne.
    Es ist eine ziemliche Weile her, daß wir in Amerika in unserer Literatur Gestalten hatten – das heißt Menschen, die ihre Visionen sowohl leben als auch niederschreiben; die sind, was sie schreiben; die wir uns als Menschen vorstellen können, die sich für das einsetzen, worüber sie in ihren Büchern geschrieben haben. Sie präsidieren sozusagen über gewisse Ideen und Einstellungen. Mark Twain war für uns in diesem Sinne eine Gestalt, so
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