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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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vielleicht William James,- ebenso Thoreau, Whitman, Henry Adams und Henry James, obgleich erst nach ihrem Tode und auf ziemlich unbestimmbare Weise. Aber wenn in unserer neueren Literatur ein Schriftsteller alles andere als anonym ist, so ist er wahrscheinlich als Gestalt zweideutig und unzulänglich wie etwa Sherwood Andersen oder Mencken oder Wolfe oder Dreiser. Im amerikanischen Charakter ist etwas, das sich nicht so leicht wie der englische Charakter mit der Vorstellung einer Gestalt verbindet. In diesem Sinne stehen die Engländer den Franzosen näher als uns. Wenn auch die Legende genau umgekehrt lauten mag, so ist doch der englische Charakter schärfer ausgeprägt als der unserige, weniger reserviert, weniger ironisch, offener in seiner Ausdrucksfähigkeit des Launenhaften, der Exzentrizität und der Verschrobenheit. Seine Gewohnheiten sind roher und kühner. Es ist ein Charakter, der sich enthüllt – er stellt sich zur Schau, ja er gibt an. Als Santayana England besuchte, löste er sich von der landläufigen Annahme, die Charaktere von Dickens seien Karikaturen. Man kann noch immer einen englischen Snob treffen, der in seiner Anbetung der Aristokratie so verteufelt schamlos ist, so offen und demonstrativ, daß ein vorsichtiger, bescheidener, ironischer amerikanischer Snob durch ihn völlig verwirrt würde. Es hat in der modernen englischen Literatur viele Schriftsteller gegeben, deren Leben Zeugnis ablegte von den Grundsätzen, die ihr Werk formten. Diese Grundsätze lenken unsere Aufmerksamkeit auf die sittlichen Persönlichkeiten, die hinter dem Werk stehen. Die beiden Lawrence, wie sehr sie sich auch unterscheiden, glichen sich darin, daß sie die Rollen ihrer Überzeugung annahmen und sie auf der Bühne der Welt darstellten. Auf unterschiedliche Weise gilt das auch von Yeats, Shaw und sogar Wells. Es gilt auch für T.S. Eliot, trotz allem, was er gegen die Ansprüche der Persönlichkeit in der Literatur gesagt hat. Selbst E.M. Forster, der so großen Wert auf Zurückgezogenheit legt, spielt in der Öffentlichkeit die Rolle des privaten Menschen, er wird dabei für uns zur Verkörperung des privaten Lebens. Orwell gehört als Gestalt zu diesen Männern. Auf die eine oder andere Weise sind sie Genies und ist er keins – wenn wir uns also fragen, was er darstellt, wofür seine Gestalt steht, muß die Antwort lauten: für die Tugend, kein Genie zu sein, der Welt entgegenzutreten mit nichts außer einer einfachen, direkten, ungetäuschten Intelligenz und dem Respekt für die wahre eigene Kraft und das Werk, das man auf sich genommen hat. Wir bewundern Genies, wir lieben sie, aber sie entmutigen uns. Sie sind große Ballungen von Intelligenz und Empfindung, wir fühlen, daß sie alle verfügbare Kraft an sich gerissen, sie monopolisiert und nichts für uns übriggelassen haben. Wir fühlen, daß wir nichts sind, wenn wir nicht wie sie sein können. Wir sind neben ihnen so einfach und so hoffnungslos abgenutzt. Wie sie glänzen und auf welch gebieterische Art sie mit den Umständen umzuspringen scheinen, sogar wenn sie im Unrecht sind! Da uns ihre Adelspatente fehlen, möchten wir gleich die Flinte ins Korn werfen. Das hat uns die Demokratie angetan, ja sie lehrte uns, daß der Genius von jedem erreicht werden kann, daß die Gnade des höchsten Ansehens jedermann zur Verfügung steht, daß wir alle Prinzen und Potentaten oder Heilige, Visionäre und Märtyrer des Herzens und des Geistes sein können. Und wenn sich dann herausstellt, daß wir nichts dergleichen sind, erlaubt uns die Demokratie zu denken, daß wir eigentlich überhaupt nichts sind. Wie angenehm klingt doch im Gegensatz zu diesem betrügerischen Trick der Demokratie das alte, reaktionäre anglikanische Wort, das Leute mit demokratischen Ansichten zum hellen Wahnsinn zu bringen pflegte: »Mein Stand und seine Pflichten.«
    Orwell hätte zweifellos diesen Ausspruch gehaßt, aber in gewissem Sinne ist er ein Beispiel für das, was gemeint ist. Und es ist sehr beruhigend, ja angenehm zu sehen, daß es so ist. Seine Romane sind gut, wirklich gut. Einige sind besser als andere; einige überraschen uns, weil sie so viel besser sind, als ihr bescheidenes Genre uns vermuten lassen könnte; sie alle sind wert, gelesen zu werden. Allerdings sind sie offensichtlich nicht das Werk eines großen, ja nicht einmal eines »geborenen« Romanciers. Meiner Meinung nach wurde seine Satire auf den Stalinismus, Farm der Tiere, überschätzt – ich glaube, man ließ
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