Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flusskrebse: Roman (German Edition)

Flusskrebse: Roman (German Edition)

Titel: Flusskrebse: Roman (German Edition)
Autoren: Martin Auer
Vom Netzwerk:
Flusskrebse - Band 1
    Er war der letzte Bewohner des Hauses.
    Über die Jahre war das Haus leer geworden und es war ihm nicht aufgefallen. Hin und wieder, wenn er an einer verwaisten Wohnungstür vorüberging, fielen ihm die Leute ein, die dahinter einmal gelebt hatten, und es ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass da ja wohl bald wieder jemand einziehen würde. Und er war sich nicht bewusst, dass ihm dieser Gedanke schon seit langem zur Gewohnheit geworden war.
    Genau so hatte er sich an abgestoßene Ecken im Stiegenhaus gewöhnt, an locker gewordene Geländer, an Flächen, wo die Farbe abgeblättert war, an eine zerbrochene Scheibe, ein morsches Fensterbrett. All diese Dinge merkte er nicht mehr.
    Eines Tages fischte er einen Brief aus dem zerbeulten Hausbriefkasten neben der Kellertüre. Die Hausverwaltung teilte mit, dass das Haus generalsaniert werden sollte. Er las den Brief, während er die Treppe hinaufstieg.
    Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass schon lange niemand mehr in das Haus eingezogen war. Auf allen Stockwerken standen Wohnungen leer, verkündeten Türschilder Namen, die längst nicht mehr galten, oder waren abmontiert worden.
    Hier im Parterre hatten die alten Schwestern Dapeci gewohnt. Erst war die jüngere, dann die ältere gestorben. Er sah die Ältere noch vor sich, eine kleine magere Frau mit weißen Locken, wie sie in ihrern blaugemusterten Kittelschürze vorsichtig von ihrer Wohnung zum Gangklo trippelte.
    Die ständig freundlich lächelnde Frau Schuberth, die ihre Heizölkanister in einem alten Kinderwagen transportierte, hatte sich von ihm verabschiedet, als sie auszog. Jetzt, wo ihr Mann nicht mehr lebte, würde sie in eine kleinere Wohnung ziehen. Er hatte gar nicht gewusst, dass der große, schweigsame, fast gänzlich blinde Mann, den er manchmal auf der Stiege traf, zu ihr gehörte. Er hatte die beiden nie zusammen gesehen, sie waren aus verschiedenen Türen gekommen und er hatte sie für bloße Nachbarn gehalten. Frau Schuberth hatte ihm: „recht, recht viel Glück“ und: „alles, alles Gute“ gewünscht und ihm lange die Hände geschüttelt.
    Im ersten Stock, hinter der Tür mit dem Schild einer Baumeisterfirma, hatte die sehr attraktive Tochter des Baumeisters mit ihrem verzogenen kleinen Sohn gewohnt.
    Im zweiten Stock hatte er eine türkische Familie gekannt. Eigentlich nur die Kinder, die in dem engen asphaltierten Hof bei den Mistkübeln spielten. Als sie klein waren, hatte er sie immer in die Höhe geworfen und durch die Luft gewirbelt, wenn er sein Fahrrad in dem kleinen Schuppen im Hof abgestellt hatte. Der Schuppen war noch früher einmal die Waschküche gewesen.
    Eine andere türkische Familie hatte im dritten Stock gewohnt, auf demselben Gang wie er. Dem Mann hatte er einmal geholfen ein paar Formulare auszufüllen und die Frau hatte gelegentlich ihre jüngste Tochter zu ihm geschickt, um ein bisschen Geld auszuborgen. Meistens hatten sie das Geld zurückgezahlt. Mit Erstaunen hatte er gesehen, wie das unscheinbare, etwas dickliche Mädchen in wenigen Monaten sich in eine hübsche junge Frau verwandelte. Dann hatte sie geheiratet. Herr Osman, der Vater, hatte Autos repariert. Erst auf der Straße, vor dem Haus, dann hatte er sich irgendwo eine kleine Werkstatt eingerichtet. Gelegentlich traf er ihn noch auf der Straße.
    Erleichtert war er gewesen, als die burgenländische Familie auszog, die am anderen Ende des Ganges auf seinem Stockwerk gewohnt hatte. Mindestens einmal in der Woche hatte ihr hysterisches Streiten und Kreischen das halbe Haus aufgeweckt. Der Mann hatte jahrelang gesoffen. „Da, schau dir dein’ Papa an, schau dir dein’ Papa an!“ hatte die Frau gekeift und den dreijährigen Sohn am Arm hinter sich hergeschleift, um ihm den kraftlos auf den Stiegen liegen gebliebenen Mann zu zeigen, der nur hilflos mit den Augen rollte. Dann wieder einmal hatte sie mitten in der Nacht an seine Tür gehämmert: „Hilfe, er bringt mi um!“ und er hatte dem Betrunkenen seine Nachtwächterpistole, mit der er herumfuchtelte, aus der Hand reißen müssen. Später war der Mann trocken geworden, aber an dem nächtlichen Gekeife hatte das nichts geändert. Der kleine Bub war neurotisch geworden, schwer verhaltensgestört. Einmal hatte er die Mutter aus der Wohnung gesperrt. Eine Stunde oder länger lachte er hinter dem Türgitter, während die Mutter an den Gitterstäben rüttelte und immer nur „Lass mi eine, lass mi eine, lass mi jetzt eine!“ kreischte.
    Zum ersten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher