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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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Lebens. Ich erinnere mich nicht, ob Orwell seine Kritik mit den Schlußfolgerungen aus Keep the Aspidistra Flying verband, aber es ist durchaus möglich, denn die typische Haltung des modernen Intellektuellen zeigt sich in seiner Abwendung vom Familienleben. Wir müssen erst noch die magische Weise verstehen lernen, in der wir die Betonung des Verstandes betrachten. Zum mindesten am Beginn unserer intellektuellen Karriere gleichen wir nichts mehr als jenen jungen Indianern, die eine Vision oder einen Traum erlebt haben, der ihnen im Austausch für die Zurückziehung vom normalen Stammesleben Stärke überträgt. Oder wir gleichen dem auf Abenteuer ausgehenden jüngsten Sohn, der sich während seiner Reise irgendeinem Wesen hilfreich erweist und dafür ein Zaubergeschenk erhält. Die Geistigkeit befreit uns von der Knechtschaft des gewöhnlich Vulgären, von der Materialität und Wirklichkeit seiner Existenz, von der Sklaverei des Geldes und dem Zwang, es zu verdienen, von der Geschmacklosigkeit und der Widerborstigkeit einer bekannten Umwelt. Sie gibt uns die Herrschaft über Unberührbares wie Schönheit und Gerechtigkeit und erlaubt uns, der unermeßlichen Lächerlichkeit zu entrinnen, von der wir in unserer Jugend glauben, daß sie sich unausweichlich gegen jene richte, welche die kleinen Sorgen dieser Welt ernst nehmen, einer Welt, von der wir wissen, daß sie unzulänglich und verdammt ist, gerade weil sie in so absurder Weise abhängig ist – von Sachen, Gewohnheiten, örtlichen und zeitlichen Sitten und den dummen Irrtümern sowie den feierlichen Ungereimtheiten vergangener Generationen.
    Der Kern der Orwellschen Kritik an der liberalen Intelligenz ist, daß sie sich weigerte, die abhängige Natur des Lebens zu verstehen. Er drückt das zwar niemals genau mit diesen Worten aus, aber er meint es. Er selbst wußte, was Krieg und Revolution wirklich waren, was Regierung und Verwaltung wirklich waren. Er wußte aus eigener Anschauung, was der Kommunismus war. Er konnte sich wirklich vorstellen, was der Nazismus war. Zu einer Zeit, als die meisten Intellektuellen noch über die Politik wie über einen abstrakten Alpdruck dachten und mit dem Finger auf das Schreckliche dieses Alpdrucks als den Beweis für ihren Wirklichkeitssinn zeigten, benutzte Orwell die Vorstellungskraft eines Menschen, für den Hände, Augen und der ganze Körper ein Teil seines Denkapparates sind. Shaw bestand darauf, der russischen Wirklichkeit in keiner Weise ins Auge zu schauen, Wells verlachte die Gefahr Hitlers und verniedlichte gerade jene Kräfte als Anachronismen, die im Augenblick die Welt formten: Rassenstolz, Führerverehrung, religiöser Glaube, Patriotismus, Liebe zum Krieg. Diese Männer hatten den politischen Verstand der Intelligenz geformt, die sich nun mit ihrer Vorliebe für Abstraktionen und mit ihrem Wunsch, die Anachronismen ihrer eigenen Gefühle zu verleugnen, einfach nicht vorstellen konnten, daß man Rußland mit dem gleichen unbestechlichen Licht der Kritik betrachten müsse wie die eigene Nation. Orwell besaß den schlichten Mut, darauf hinzuweisen, daß die Pazifsten ihre Lehre unter der Voraussetzung des Schutzes der englischen Flotte verkündeten und daß der passive Widerstand Gandhis gegenüber Deutschland oder Rußland erfolglos geblieben wäre.
    Sein zorniger Eifer gegen die bestehende Ordnung erlahmte nie. Aber ein Paradox der Geschichte hatte die alte britische Ordnung zu einer der wenigen wohltätigen Kräfte in der Welt gemacht, welche die Verwirklichung sozialer Hoffnungen noch gestattete, die sonst fast überall vereitelt und betrogen wurden.
    So hing Orwell mit einem etwas komischen und ernsten Stolz an der alten Lebensweise der Klasse, welche die alte Ordnung bestimmt hatte. Er muß sich manchmal selbst gewundert haben, warum er Sportgeist, das Benehmen eines Gentleman, Verantwortungsgefühl und körperlichen Mut pries. Er mag sich gedacht haben, und da hatte er wohl recht, daß sie als revolutionäre Tugenden recht brauchbar seien. So sagte er von Rubaschov, dem wichtigsten Charakter in Koestlers Roman Sonnenfinsternis , daß er in seiner Loyalität zur Revolution standhafter als mancher seiner Kameraden sei, weil er im Gegensatz zu ihnen eine »bürgerliche« Vergangenheit habe. Gewiß waren es Tugenden des Überlebens, die er pries, und in einer ungeordneten Welt waren sie in Verruf geraten. In seinem Streit mit der Intelligenz hört sich Orwell manchmal anscheinend wie ein Leitartikelschreiber
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