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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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geschafft, um einen Aufstand vorzubereiten, der der Regierung den unausgereiften Wunsch der Kollektivierung aufzwingen sollte: am 3. Mai verwirklichten sie ihre Pläne, als sie auf die Straße gingen und das Telefonamt besetzten. Damit zerbrachen sie die Einheitsfront völlig und brachten den Fortgang des Krieges in Gefahr. Orwell sah jedoch in Barcelona nichts von alldem. Er stand unter dem Befehl der P.O.U.M. aber er hatte sich nicht ihrer Politik verschrieben und ebensowenig den Anarchisten. Er besaß genug Sympathie für die Kommunisten, um sich ihren Reihen anzuschließen. Was er sah, beobachtete er so objektiv, wie man überhaupt etwas sehen kann. Was er berichtete, wird heute, glaube ich, von allen, deren Urteil etwas wert ist, als der Kern der Wahrheit akzeptiert. Es gab keine großen Lager, in denen die Anarchisten und P.O.U.M.-Leute Waffen versteckt hatten.
    In Wirklichkeit hatten sie einen großen Mangel an Waffen. Die Regierung hatte unter kommunistischer Kontrolle die Schlagkraft der Zivilgarde ausgebaut, einer Polizeieinheit, die als »unpolitisch« bezeichnet wurde und aus der man Arbeiter ausschloß. Es ist zweifellos richtig, daß es zwischen der Regierung und abweichenden Gruppen eine wachsende Spannung gab. Aber die eigentlichen Kämpfe wurden durch die herausfordernden Handlungen der Regierung selbst hervorgerufen: die Zurschaustellung militärischer Stärke; der Befehl an alle Privatleute, ihre Waffen abzuliefern; Angriffe auf Stützpunkte der Anarchisten und als Höhepunkt der Versuch der Besetzung des Telefonamtes, das seit Beginn des Krieges in den Händen der Anarchisten gewesen war.
    Es wäre sehr schwierig gewesen, irgend etwas davon in New York oder London zu erfahren. Die Zeitschriften, die das Denken der Linksintellektuellen beeinflußten, wußten davon nichts und wollten auch nichts davon wissen. Sie wußten auch nichts von den Folgen jenes unglückseligen Aufstandes. Als Barcelona wieder ruhig war – etwa sechstausend Mann Stoßtruppen waren hereingebracht worden, um die Störung unter Kontrolle zu bringen –, kehrte Orwell an seine alte Front zurück. Dort wurde er schwer verwundet, eine Kugel ging durch seinen Hals und verfehlte knapp seine Luftröhre. Nach einem schrecklichen Krankenhausaufenthalt, über den er so leicht hinweggeht, kam er auf Krankenurlaub nach Barcelona. Er fand die Stadt mitten in einer Säuberungsaktion. Die P.O.U.M. und die Anarchisten waren unterdrückt worden, die Macht der Arbeiter war gebrochen, und die Polizeihetze hatte begonnen. Die Gefängnisse waren gefüllt und wurden täglich voller. Ergebene Kämpfer für die spanische Freiheit, Männer, die alles für das große Ziel hingegeben hatten, wurden unter den fürchterlichsten Verhältnissen eingekerkert, oft ohne jeden Kontakt zur Umwelt festgehalten, und von vielen hörte man nie wieder etwas. Orwell selbst stand unter Verdacht und war in Gefahr, da er zu einem P.O.U.M.-Regiment gehört hatte. Er verbarg sich, bis er mit Hilfe des britischen Konsuls nach Frankreich fliehen konnte. Aber wenn man die liberalen Zeitschriften durchliest, die sich die Sache der bürgerlichen Freiheiten zum Monopol gemacht hatten, findet man keine Erwähnung dieses Terrors. Die Zeitschriften hatten sich der Abstraktion, nicht den Tatsachen hingegeben.
    Und sie blieben der Abstraktion noch lange verpflichtet. Viele sind ihr heute noch verpflichtet oder wünschen sehnsüchtig, es noch zu können. Wenn nur das Leben nicht so greifbar, so konkret, so aus Tatsachen zusammengesetzt wäre, die miteinander in Widerspruch stehen! Wenn nur die Dinge, von denen Leute sagen, daß sie gut seien, auch wirklich gut wären! Wenn nur die Dinge, die ziemlich gut sind, ganz und gar gut wären! Wenn nur Politik nicht eine Sache der Macht wäre – dann könnten wir unser Denken mit Freude der Politik zuwenden, dann könnten wir einwilligen zu denken!
    Aber Orwell hatte niemals geglaubt, daß das politische Leben eine intellektuelle Idylle sein könne. Er wandte seine Gedanken der Politik unmittelbar zu, wie er sie erlebt hatte. Er erzählte die Wahrheit, und zwar auf nachahmungswürdige Art, ruhig, einfach, den Leser gleichzeitig warnend, daß es nur die Wahrheit eines einzelnen Mannes sei. Er bediente sich keines politischen Jargons, und er machte niemandem Vorwürfe. Er bemühte sich nicht zu beweisen, daß er das Herz auf dem rechten Flecke habe oder auf dem linken. Er war gar nicht daran interessiert, auf welcher Seite man sein Herz
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