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Mein Katalonien

Titel: Mein Katalonien
Autoren: George Orwell
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vermute, da er selbst wußte, wo es lag. Er war lediglich daran interessiert, die Wahrheit zu erzählen. Dieser Wahrheit schenkte man wenig Aufmerksamkeit – sein Buch verkaufte sich schlecht in England, es mußte verramscht werden, es wurde in Amerika nicht veröffentlicht, und die Leute, denen es hätte am meisten sagen sollen, reagierten überhaupt nicht darauf.
    Seine besondere Wahrheit bezieht sich auf Ereignisse, die jetzt lange zurückliegen, so wie unsere Zeitrechnung nun heute einmal ist. Deshalb ist es aber nicht weniger bedeutungsvoll, denn die besondere Wahrheit trägt eine allgemeine Wahrheit in sich, die auf lange Zeit hin sehr wichtig sein wird, wie uns jetzt kaum mehr entgehen kann. Am allerwichtigsten aber ist unser Verständnis für den Mann, der die Wahrheit sagt.
     
    Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit, daß du ihm nicht auch gleich werdest.
    Antworte aber dem Narren nach seiner Narrheit, daß er sich nicht weise lasse dünken.
    S PRÜCHE , XXVI , 4-5

 
     
     
     
    Erwähnte Parteien und Gruppierungen
    P.S.U.C (Partit Socialista Unificat de Catalunya)
    P.O.U.M. (Partido Obrero de Unificación Marxista)
    F.A.I. (Federación Anarquista Ibérica)
    C.N.T. (Confederación Nacional de Trabajadores)
    U.G.T. (Unión General de Trabajadores)
    A.I.T. (Asociación Internacional de los Trabajadores)
    I.L.P. (Independent Labour Party)
    J.C.I.
    J.S.U.

 
ERSTES KAPITEL
     
    Einen Tag, ehe ich in die Miliz eintrat, sah ich in der Lenin-Kaserne in Barcelona einen italienischen Milizsoldaten, der vor dem Offizierstisch stand.
    Er war ein zäher Bursche, fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt, mit rötlichgelbem Haar und kräftigen Schultern. Seine lederne Schirmmütze hatte er grimmig über ein Auge gezogen. Ich sah von der Seite, wie er, mit dem Kinn auf der Brust und einem verwirrten Stirnrunzeln, auf eine Karte starrte, die einer der Offiziere offen auf dem Tisch liegen hatte. Etwas in diesem Gesicht rührte mich tief. Es war das Gesicht eines Mannes, der einen Mord begehen oder sein Leben für einen Freund wegwerfen würde. Es war ein Gesicht, das man bei einem Anarchisten erwartete, obwohl er sehr wahrscheinlich ein Kommunist war. Offenherzigkeit und Wildheit lagen darin und gleichzeitig auch die rührende Ehrfurcht, die des Schreibens und Lesens unkundige Menschen ihren vermeintlichen Vorgesetzten entgegenbringen. Es war klar, daß er aus der Karte nicht klug werden konnte, sicherlich hielt er Kartenlesen für ein erstaunliches intellektuelles Kunststück. Ich weiß kaum, warum, aber ich habe selten jemand gesehen – ich meine einen Mann –, für den ich eine solch unmittelbare Zuneigung empfand. Während man sich am Tisch unterhielt, verriet eine Bemerkung, daß ich ein Ausländer war. Der Italiener hob seinen Kopf und sagte schnell: »Italiano?«
    Ich antwortete in meinem schlechten Spanisch: »No, inglés; y tú?«
    »Italiano.«
    Als wir hinausgingen, schritt er quer durch das Zimmer und packte meine Hand mit hartem Griff. Seltsam, welche Zuneigung man für einen Fremden fühlen kann! Es war so, als ob es seiner und meiner Seele für einen Augenblick gelungen sei, den Abgrund der Sprache und Tradition zu überbrücken und sich in völliger Vertrautheit zu treffen. Ich hoffte, daß er mich genauso gut leiden möge wie ich ihn. Ich wußte aber auch, daß ich ihn nie wiedersehen durfte, um an meinem ersten Eindruck von ihm festzuhalten. Es ist kaum nötig zu erwähnen, daß ich ihn wirklich nie wiedersah. In Spanien hatte man dauernd derartige Begegnungen.
    Ich erwähne diesen italienischen Milizsoldaten, da er in meiner Erinnerung lebendig geblieben ist. In seiner schäbigen Uniform und mit seinem grimmigen, rührenden Gesicht ist er für mich ein typisches Bild der besonderen Atmosphäre jener Zeit. Er ist mit all meinen Erinnerungen an diesen Abschnitt des Krieges verknüpft: den roten Fahnen in Barcelona; den schlechten Zügen, die mit armselig ausgerüsteten Soldaten an die Front krochen; den grauen, vom Krieg angeschlagenen Städten hinter der Frontlinie und den schlammigen, eiskalten Schützengräben in den Bergen.
    Das war Ende Dezember 1936. Kaum sieben Monate sind bis heute, während ich darüber schreibe, vergangen, und doch ist es ein Abschnitt, der schon in eine gewaltige Entfernung zurückgewichen ist. Spätere Ereignisse haben diese Zeit viel nachhaltiger verwischt als etwa meine Erinnerungen an 1935 oder sagen wir
    1905. Ich war nach Spanien gekommen, um Zeitungsartikel zu
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