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Kurzes Buch ueber das Sterben

Kurzes Buch ueber das Sterben

Titel: Kurzes Buch ueber das Sterben
Autoren: Andrzej Stasiuk
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Großmutter und die Geister
    M eine Großmutter wohnte in Podlasie. Nicht im Dorf, sondern in der sogenannten »Kolonie«: ungleichmäßig verstreute Gehöfte, durch Espenhaine und Spaliere aus hohen alten Pappeln voneinander getrennt. Das Haus stand in einem Obstgarten. Hier war es im Sommer selbst zur Mittagszeit kühl. Die Apfelbäume waren uralt und verwachsen, ihre Kronen ineinander verschlungen – ein Reich ewigen Schattens.
    Der Obstgarten grenzte an eine Wiese. Doch dieses Wort hörte ich nie. Man sagte smug , »Streif«, die Kühe weideten auf dem smug . Ein Stück Grün mit einem Brunnen in der Mitte, der als Viehtränke diente. Der Brunnen war alt und hatte statt einer Betoneinfassung eine Verschalung aus Brettern. Den Eimer zog man mit Hilfe einer langen Stange heraus, an deren Ende ein Haken befestigt war. Diese Hakenstange hieß kluczka .
    Das »u« hat den sanftesten, den weichsten Klang von allen Vokalen.
    Immer wenn ich an meine Großmutter denke, kommen mir diese zwei Wörter in den Sinn: k luczka , smug . Und noch ein drittes: duch – »Geist«.
    Großmutter glaubte an Geister.
    In den sechziger Jahren gab es dort noch keinen Strom. Großvater stieg auf einen Schemel und zündete die von der Decke hängende Petroleumlampe an. Im Herbst tat er das recht früh, um sechs, vielleicht schon um fünf. Im Herbst kam ich mit meinem Vater dorthin, um Äpfel zu ernten, wir luden ganze Kisten in den Lublin meines Onkels, eines waschechten Fahrers des frühen und mittleren Kommunismus.
    Großmutter also glaubte an Geister. Es war kein ängstlicher Glaube und auch keiner, wie man ihn dank gelegentlicher Kontakte mit dem Jenseits oder aufgrund von Träumen oder Erscheinungen gewinnt – nichts dergleichen.
    Sie setzte sich in die Ecke, auf das Bett mit der Wolldecke, hinter ihr zwei Rehe an der Tränke in einer himmelblau-grünen Landschaft, von der das gelbe, sanfte Licht der Lampe nur das silbrige Weiß des Wassers sichtbar machte, und erzählte. Es waren lange Geschichten über banale Ereignisse, über Arbeit, Besuche, Wanderungen ins Nachbardorf, Familientreffen. Eineruhige Erzählung, ausgefüllt mit Fakten, mit Namen von Dingen und Namen von Menschen. Die Topographie ihres Dorfes und einiger Orte der Umgebung, eine Chronologie, gespannt zwischen Weihnachten, Mariä Himmelfahrt und Allerseelen.
    In dieser grauen Materie bildeten sich von Zeit zu Zeit Risse, die Fäden von Schuss und Kette liefen auseinander, und durch schien das Jenseits, das Übernatürliche, jedenfalls das Andere.
    So sah Großmutter eines Sommerabends, als sie von einer ihrer zahlreichen Cousinen nach Hause zurückkehrte, zwischen den Getreidestiegen eine weiße Gestalt. Nicht Mensch, nicht Tier, lief die Gestalt am Rain entlang, mal auf zwei, mal auf vier Beinen, im Mondlicht deutlich zu sehen, aber ganz und gar immateriell.
    Ein andermal, nach dem Tod eines nahen Verwandten, sah Großmutter, wie der Verstorbene in die Küche kam; die Tür quietscht, der Gast schaut in alle Schubladen und Fächer der Kredenz und geht wieder, ohne etwas mitzunehmen. Das geschah im Morgengrauen. Großmutter war gerade dabei aufzustehen. Sie sah den Besucher, als sie schon auf dem Bettrandsaß, an derselben Stelle, wo sie ihre Geschichten erzählte.
    Natürlich kann ich mich nicht an alle Erzählungen erinnern, nur an Bruchstücke. Aber ihre Aura habe ich mir bewahrt: eine unerhört einfache Aura, kein Staunen, keine Ausrufezeichen – nichts.
    Dieses Durchscheuern des Existenzgewebes fand eher in meiner Phantasie statt; ich war es, der die Risse sah. Großmutter ging nach diesen Geschichten zur Tagesordnung über. Überhaupt schien es für sie eine ungeteilte Ordnung der Dinge zu geben: alle waren gleichermaßen real und berechtigt. Vielleicht führte ihr Bewusstsein irgendwelche Unterscheidungen durch, vielleicht heftete es zusammen und nähte Flicken auf die brüchigen Stellen, aber in den Geschichten selbst waren keine Spuren von Ausbesserungen zu sehen.
    Wenn an einem reglosen, windstillen Nachmittag auf dem Feld eine kleine Windhose erschien, die die aufgestellten Garben fortriss, bekreuzigte sich Großmutter einfach, verfolgte das Phänomen mit dem Blick und machte sich wieder an die Arbeit. Hatte doch nur das Böse in einer von vielen Gestalten seine Anwesenheitmanifestiert. Da war nichts von der Erregung, die schwebende Tische begleitet oder den Geschichten von Edgar Allan Poe innewohnt. Großmutter erinnerte eher an Swidrigajlow und seine
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