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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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und zeigt das in den Dingen verborgene Feuer. Dieses Feuer ist der Grund unserer Freude. Weißt du noch? Ich glaube, ein Grashalm ist nicht geringer als das Tagwerk der Sterne . Tag für Tag verstand ich nun den Sinn dieser Worte, die du so geliebt hast; ich lernte das Flämmchen wahrzunehmen, das in allem glüht, was uns umgibt. In den Steinen, in den Blättern, in den Blumen, in den Raben, in den Katzen, in den Bienen, in den Bäumen, in den Schmetterlingen, in jedem Samen, der aufgeht, in jeder mineralischen Struktur, in jedem Geschöpf, das auf die Welt kommt, wirkt ein Funke des ursprünglichen Lichts.
    Leben ist letztlich nichts anderes als das – ihn zu sehen und sein Möglichstes zu tun, damit er nicht verlöscht.
    Wenn jemand hier heraufkommt und mich nach einer Methode fragt, nach einem Weg, um glücklich zu werden, muss ich häufig lächeln.
    »Der Weg ist das Leben.«
    Doch diese Antwort befriedigt sie nicht. Sie hätten lieber etwas Großes, Klares, Sicheres. Man muss wie die Lämmer im Schatten des Mutterschafs sein, um zu begreifen, dass es keine Allmacht in der Liebe gibt, sondern vielmehr die Begegnung von zwei verletzlichen Wesen. Erst wenn du das akzeptiert hast, kommt in deinen Tagen alles ins Lot.
    Im vergangenen Herbst, beim Hühnerfüttern, sah ich am Ende der Wiese eine Gestalt auftauchen. Es war ein Mittwoch, der Tag, an dem gewöhnlich niemand hier vorbeigeht, deshalb wunderte ich mich. Als er näher gekommen war und mich grüßte, merkte ich, dass es noch fast ein Junge war. Er hatte einen Rucksack dabei und eine gleichzeitig scheue und verwegene Art. Schwungvoll gab er mir die Hand. »Hallo, ich heiße Nathan, kann ich ein paar Tage hierbleiben?«
    Später erklärte er mir, er sei ein leidenschaftlicher Ornithologe und hier heraufgestiegen, um die Spechte im nahen Wald zu beobachten. Das überraschte mich – es war das erste Mal, dass jemand eine solche Bitte äußerte, gleichwohl antwortete ich ihm das, was ich zu allen sage: »Mein Haus ist dein Haus.«
    Er richtete sich in dem Stockbett ein und wollte noch am selben Nachmittag in den Wald gehen. »Verirr dich nicht!«, rief ich ihm nach, bevor ich seinen Rücken zwischen den Bäumen verschwinden sah.
    Bei Einbruch der Dämmerung kehrte er zurück, setzte sich in eine Ecke und machte sich Notizen in ein Heft. Ab und zu hatte ich den Eindruck, dass er mich beobachtete, und wenn sich unsere Blicke trafen, war mir, als erröte er. Beim Abendessen musste ich ihm jedes Wort aus der Nase ziehen. Er kam aus Mailand, besuchte die vorletzte Klasse Gymnasium; später wollte er Biologie studieren, sich in einer Naturschutzorganisation engagieren. Als er von seiner Leidenschaft sprach, wurde er lockerer, ereiferte sich: »Wie kann man bloß auf dieser Welt leben und nicht darum kämpfen, sie in einen besseren Ort zu verwandeln? Im Pazifischen Ozean gibt es einen schwimmenden Kontinent, der doppelt so groß ist wie die Vereinigten Staaten und nur aus Plastikabfall besteht! Wie kann man so etwas wissen und trotzdem noch ruhig schlafen? Ein einziges Stück Plastik braucht 500 Jahre, bis es zerfällt! Wie kann man da weiter konsumieren und zerstören und denken, dass einen die Sache nichts angeht? Wen geht sie denn etwas an? Man kann nicht mehr einfach die Hände in den Schoß legen.«
    »Was außen ist«, erwiderte ich, »ist nur ein Spiegel dessen, was wir in uns tragen. Wenn wir unser Inneres wie eine Müllkippe behandeln, können wir nicht erwarten, dass sich die Welt rund um uns wie durch Zauberei in einen Garten verwandelt.«
    Anschließend sprach er von seiner Liebe zum Meer. »Es ist komisch«, sagte er, »obwohl ich in Mailand geboren bin, mitten im Smog, habe ich schon als Kind vom Meer geträumt. Vielleicht spezialisiere ich mich auf Meeresbiologie. Diesen Sommer gehe ich erst mal als freiwilliger Helfer auf ein Schiff, um Delfine zu retten. Sie verwechseln Plastiktüten mit Quallen, fressen sie und ersticken daran.«
    »Du hast einen seltenen Namen«, bemerkte ich nach einer Pause. »War es der Name eines deiner Vorfahren, oder haben ihn deine Eltern gewählt?«
    Unbekümmert zuckte Nathan mit den Achseln. »Den hat meine Mutter ausgesucht. Natürlich, ohne mich um Erlaubnis zu fragen«, fügte er lächelnd hinzu.
    »Gefällt er dir nicht?«
    »Ich hätte etwas Einfacheres vorgezogen.«
    »Es ist der Name eines großen Propheten.«
    Er räkelte sich gähnend. »Ich weiß, Nathan, der Spielverderber, der die Intrigen von König David
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