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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor
Autoren: Stefan Kiesbye
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PROLOG
    Die Zeit spielt keine Rolle. Ich bin nach Hemmersmoor zurückgekehrt und lebe heute in demselben Haus, in dem ich aufwuchs, demselben engen Haus, in dem mein Vater und meine Schwester Ingrid starben, als ich noch ein Schuljunge war. Ich schütte Wasser aus blechernen Kannen auf ihre Gräber und jäte das Unkraut und senke Klusternelken in die Erde. Manchmal sprechen mich alte Dorfbewohner auf die beiden an, erinnern sich an die Vorfälle von vor über vierzig Jahren. Ihre Nasen beginnen dann zu zucken, als ob sie einen Brand witterten. Ihre Lippen zittern, aber die Worte wollen doch nicht kommen und sie lassen das Thema schnell fallen. Niemand hat mich je mit ihrem Tod behelligt. Es ging alles mit rechten Dingen zu.
    Unser Dorf ist größer geworden. Reiche Bremer haben sich Ferienhäuser gebaut, und ihre blank geputzten Autos parken morgens vor Meiers Bäckerei. Der Lärm ist noch immer ungewohnt, das Leben scheint sich beschleunigt zu haben. Als ich ein Junge war, bestand Hemmersmoor aus einer Hauptstraße und ein paar kleinen Gassen und Feldwegen. Die Häuser waren alt und verkrümmt, die Türen und Fenster niedrig, die Balken verzogen. Das Straßenpflaster war bucklig, und niemand fuhr aus reiner Freude durch unser Dorf. Sogar das Sonnenlicht schien anders, dunkler, niemals ohne Argwohn.
    Als ich vom Tod meiner Mutter hörte, lebte ich in Buffalo, im Staat New York. Ich hatte mich im Jahr zuvor zur Ruhe gesetzt und seit Jahrzehnten nichts von meiner Familie gehört. Ich hatte sie an den Rand des Vergessens getrieben und dort gefangen gehalten, wie wilde Tiere. Der Brief des Notars aus Groß Ostensen erreichte mich zu spät, um es zum Begräbnis zu schaffen. Wie ich erfahren habe, hatte nicht einmal meine ältere Schwester Nicole die Reise angetreten, und sie ist auch seit meiner Ankunft dem Dorf ferngeblieben. Warum ich zurückkam, vermag ich nicht zu denken. Es mag mit dem Tod meiner Frau zusammenhängen. Sie war es, die mir in der neuen Welt ein Zuhause gab, sie war mein Kontinent, und ohne sie war ich ein zweites Mal heimatlos geworden. Vielleicht war es die Aussicht, mein Elternhaus als Herr zu betreten. Vielleicht dachte ich, dass die wilden Tiere mit meiner Mutter gestorben waren und dass ich vor ihnen sicher sei. Ich hatte geplant, nach zwei Wochen in die Staaten zurückzukehren.
    Alex Frick, mein Jugendfreund, lebt wie ich wieder in unserem Heimatdorf. Seine Jugendsünden sind vergeben – oder vielleicht nur vergessen. Er hat die Gaststätte seines Vaters übernommen, er ist ein wichtiger Mann im Dorf. Jetzt sind wir die alten Leute, niemand sonst erinnert sich mehr an seine Jahre in der Anstalt oder an seinen Bruder, der ihn fast die Erbschaft kostete und irgendwann für immer verschwand.
    Wenn wir uns auf der Straße begegnen, nickt Alex mir zu. Wir sprechen nicht oft über die Vergangenheit, es besteht kein Grund. Unsere Geheimnisse waren stets offen und wohlbehütet. Dieser Tage hüten wir die Geschichten unseres Dorfes; wir sind ihre Verwalter und können sie jederzeit verändern. Alex sieht noch immer den bleichen Christian in mir, dessen Brauen so hell waren, dass sein Gesicht ganz nackt schien. Er erinnert sich an meinen Vater, der sich einst zu Tode soff, und dass meine Schwester ein uneheliches Kind gebar. Er weiß, dass vieles ungesagt blieb. Aber er hat Besseres zu tun, als in alten Geschichten zu kramen, und er erwartet, dass ich es ebenso halte.
    Die jungen Leute im Dorf arbeiten in den Bremer Fabriken oder in den Geschäften und Fabriken in Groß Ostensen. Die Landwirte haben aufgegeben, und die Torfkähne, die einst unsere Kanäle befuhren, sind heute Attraktionen für zahlende Ausflugsgäste. Hemmersmoor sieht bunt und makellos aus, als ob alles nur für Hobbyfotografen aufgestellt worden wäre. Töpfer und Maler bieten ihre Waren an.
    Die Apotheke, die früher stets ordentlich gestrichen war, übersieht auch heute noch den Dorfplatz. Das alte Schulhaus steht noch immer, aber zwei Familien leben nun darin, der sandige Schulhof ist ein Mehrzweckgarten, und eine junge Frau bestellt das Gemüse. Ihre Kinder machen einen Höllenlärm.
    Ein kleines Stück außerhalb von Hemmersmoor, in der Nähe des Drosteufers, stand Brümmers Maschinenfabrik. Ein niedriges Gebäude, das im letzten Krieg der Munitionsproduktion gedient hatte. Brümmers Fabrik besaß das einzige Bahngleis, das je nach Hemmersmoor verlegt worden war, und nachmittags saßen wir Jungen an den nach oben gebogenen
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