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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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im Gehen über ihre Worte nach. Als ich mit Laika dieses Hochplateau erreichte und sie glücklich herumspringen sah, beschloss ich hierzubleiben. Wiedergutmachen, zuhören, trösten. All diese Dinge konnte ich nicht tun, solange ich wie ein Landstreicher umherzog. Ich hatte keine Bücher dabei, musste keine großartigen Ideen oder Taten hervorbringen – das einzige Gefühl, das mich in dem Moment bewegte, war der gute Wille. Ich wollte mich ändern, wollte den Schmerz und die Zerstörung in etwas anderes verwandeln. Ich wollte alles Böse, das ich angerichtet hatte, wiedergutmachen – wenn mir auch nicht ganz klar war, wie. Ich wollte entdecken, wo meine Türen waren, wo sich meine Fenster befanden, und versuchen, sie zu öffnen.
    Ein erstes Zeichen war, dass ich plötzlich verstand, was dir passiert war. Es war im November des ersten Jahres, und ich sammelte gerade Holz im Buchenwald, als direkt vor mir ein dicker toter Ast von einem Baum auf den Boden krachte. Flora, das Medium, hatte gesagt, du habest dich nicht umgebracht. In dem Moment habe ich den Grund deines Todes verstanden – so einfach, so banal –, als Arzt hätte ich ihn schon viel früher verstehen müssen. Du hattest ein Aneurysma, das geplatzt ist, und dann ist das Auto von der Fahrbahn abgekommen, weil du das Bewusstsein verloren hattest. War nicht auch deine Mutter daran gestorben, im Jahr nach unserer Hochzeit? Und hattest du nicht, als du ins Auto einstiegst, gesagt: »Ich bekomme gerade arge Kopfschmerzen«?
    Endlich den Grund zu begreifen hat mir einen tiefen Frieden geschenkt, und mit diesem neuen Gefühl habe ich begonnen, mich mit den Alltagsdingen zu befassen. Mit den Händen arbeitend, gelang es mir langsam, den Kopf von allen nutzlosen, überflüssigen Ideen zu entrümpeln. Als ich dann wieder frei denken konnte, merkte ich, dass ich bisher nie die Realität gesehen hatte, sondern nur das, was ich gern als Realität gehabt hätte. Mit drei Monaten beginnt sich der Schleier vor den Augen der Neugeborenen zu lichten. So fühlte ich mich – wie ein dreimonatiges Baby. Ich sah die Dinge und wunderte mich über ihre Schönheit. Das ist ein Blatt, sagte ich mir, das ist eine Eichel, und dieses Meisterwerk an Weichheit und Wärme ist das Nest einer Schwanzmeise. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und fragte mich, wo all diese Dinge denn bisher gewesen waren. Doch sofort antwortete ich mir mit einer weiteren Frage – wo war ich gewesen?
    Im folgenden Frühjahr starb Laika. Sie erlosch langsam, in ihrem Korb vor dem Kamin ausgestreckt, an Altersschwäche. Ihr Blick war schon länger vom grauen Star getrübt, doch sie hörte noch ausgezeichnet.
    Als mir klar wurde, dass das Leben aus ihr wich, setzte ich mich neben sie, blieb einen Tag und eine ganze Nacht an ihrer Seite und streichelte sie. Ich erzählte ihr, was wir alles zusammen gemacht hatten, und ab und zu klopfte sie schwach mit dem Schwanz, als wollte sie sagen: »Ja, ja, ich entsinne mich auch.« Gegen Morgen fiel ihr das Atmen immer schwerer. Da flüsterte ich ihr den Namen meines Vaters zu: »Guido …« Laika spitzte die Ohren – ihre Rosenknospenohren – und wedelte auf einmal mit großer Kraft. Gleich darauf gab sie ein leises Winseln von sich, und ihr Körper wurde vom Tod empfangen.
    Noch am selben Morgen begrub ich sie vor dem Gemüsegarten und gab ihr auch den Brief meines Vaters mit ins Grab, den ich all die Jahre in der Tasche bei mir getragen hatte.
    In jener Nacht sah ich sie beide wieder. Ihre Körper waren anders als zu Lebzeiten, sie schienen nicht aus Materie, sondern eher aus Buchenblättern zu bestehen – den Herbstblättern, wenn die Sonne sie streift und in kleine goldene Flammen verwandelt. Sie taten nichts, sie sagten nichts, sie gingen einfach nebeneinanderher, in ein Licht gehüllt, das ich bis dahin nicht gekannt hatte. Ich schreckte aus dem Schlaf auf, nicht durch ein Geräusch, nicht aus Angst, sondern weil mein Herz begonnen hatte, anders zu schlagen, genauso sonderbar wie bei der Hellseherin, als ich im Zimmer deinen Duft gerochen hatte. So, dachte ich, muss das Herz des Hundes Argo geschlagen haben, als er längst jede Hoffnung verloren glaubte und dann seinen Herrn Odysseus auf der Schwelle stehen sah. Die Liebe, die wartet, die Liebe, die durch die Rückkehr belohnt wird.
    Mit den Jahren ist mir klar geworden, dass das Ewige ab und an die Zeit durchbricht. Ohne Theorien, planlos, ohne Punkte zu sammeln, ohne Waage. Das Ewige bricht durch
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