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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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»Singen?« Ich hatte losgelacht. »Ich könnte höchstens krächzen.«
    »Probier’s einfach, entspanne dich«, hatte sie gedrängt. »Es würde dir guttun.«
    Ich hatte sie gutmütig aufgezogen: »Und warum sollte mir das guttun, Frau Doktor?«
    »Weil nicht du es bist, der singt.«
    »Ja, wer denn dann?«
    »Der Hauch Gottes, der in allen Dingen ist. Wenn du atmest, atmest du seinen Hauch. Wenn du singst, singt deine Stimme im Einklang mit der seinen.«
    Väterlich hatte ich ihr mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze getippt: »Du weißt doch, dass ich nicht an diese Sachen glaube.« Sie hatte mich traurig angesehen und gemurmelt: »Wie schade.«
    Welche Stimme hätte ich in dem Moment wohl haben sollen, in der Eiseskälte meiner leeren Wohnung?
    Die Stimme eines Mannes, dem man – Handbreit für Handbreit – die Haut abgezogen hat, die Stimme eines Mannes, der mit einem Angelhaken im Herzen atmet.
    In meiner Kindheit waren wir einmal mit der Schule im Zoo. Dort hinter den dicken, glänzenden Gitterstäben eines winzigen Käfigs sah ich den ersten Wolf meines Lebens. Er war allein und lief hin und her. Offenbar machte er das schon seit so langer Zeit, dass der Boden ganz abgetreten war – er machte fünf Schritte, dann kehrte er um, wieder fünf Schritte nach der anderen Seite. Er hielt den Blick gesenkt, hatte den Kopf zwischen die Schulterblätter gezogen, nicht einmal nachts ruhte er, sagte der Wärter zu uns. Einige Kinder versuchten ihn zu reizen, doch er trabte gleichgültig weiter – hin und her, hin und her – in der Hoffnung, dass der Tod ihn früher oder später befreien würde.
    Jetzt war ich dieser Wolf. Ich war dieser Wolf und gleichzeitig ein großer Wal mit einer Harpune im Rücken. Ich schwamm durchs Meer und hinterließ eine Blutspur. Der Schmerz leitete jeden meiner Schritte, und nun war es ein klarer, reiner, absoluter Schmerz ohne Wut, ohne Neid, ohne Selbstmitleid. Ein Schmerz, vor dem man sich nur verneigen und ruhig auf den Tod warten kann. Ich nahm drastisch ab. »Lass dich untersuchen«, sagten die Freunde immer wieder, »geh zum Arzt«, doch ich antwortete mit einem Achselzucken. Nachts legte sich Laika neben mich ins Bett, und an ihrem kleinen Körper versuchte ich mich zu wärmen.
    Einige Monate später wurde ich zum Direktor des Krankenhauses gerufen. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag eine umfangreiche Akte mit meinem Namen darauf. Ohne viele Umschweife teilte er mir mit, dass sich mein professionelles Verhalten – das früher untadelig gewesen sei – im Lauf der Jahre stetig verschlechtert habe. Viele Kollegen hätten sich über mich beklagt, und ihren Berichten zufolge wäre es mehr als einmal beinahe zur Katastrophe gekommen. Das Einzige, was ich tun könne – und müsse –, sei, mich zurückzuziehen, eine lange Auszeit zu nehmen. Später würde die Direktion dann entscheiden, was zu tun sei.
    Erst an diesem Punkt hob der Wolf den Kopf, er begriff, dass der Wärter ihm den Schlüssel zuwarf.

23
    Müsste ich einen Brief an Larissa schreiben statt an dich, würde ich ihr als Erstes sagen, dass ich in diesen Jahren in gewisser Weise zu singen gelernt habe.
    Wenn ich allein bin und arbeite, singe ich.
    Ich singe nachts, wenn ich aufwache und das Radio mir den ganzen Schmerz der Welt zu Gehör bringt.
    Ich bin nicht allein in diesem Raum, denn der Raum meines Herzens ist voller Menschen – Schiffbrüchige, Verzweifelte, Hungernde, Opfer von Gewalt, Personen mit vollem Bauch, die nicht begreifen, wonach sie hungern. Sie sind alle bei mir, und ich empfange sie mit meinem Gesang. Außer dem ihren nehme ich auch den Schmerz aller Wesen auf, die zwar nicht sprechen können, aber die tiefe Verwüstung des Schmerzes kennen.
    Im Sommer singe ich draußen, und meine Worte verfliegen im fernen Gebell der Füchse und den Rufen der Eulen.
    Heute Nacht hörte ich, dass der Karmelberg gebrannt hat. So nahm ich außer den Personen auch die Bäume, die Sträucher, die Schmetterlinge, die Vögel und die am Boden lebenden Tiere in mir auf, die auf diesem riesigen Scheiterhaufen geopfert wurden – eine Folge der menschlichen Nachlässigkeit.
    Und zugleich gedachte ich des Propheten Elias, der auf diesem Berg – mit einem Feuer, das niemand vorhersehen konnte – das Heer der Götzenanbeter besiegte.
    Wie jedes Element der Natur hat auch das Feuer zwei Gesichter – eines lodert und zerstört, das andere reinigt und bringt neues Leben hervor. Elias besiegte die Götzendiener,
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