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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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doch diese sind erneut unter uns, denn unser Herz birgt den Samen dieses Unkrauts in sich. Ein leichter Regen genügt, und sofort sprießt es, klettert siegreich empor – nistet sich mit seinen haarigen Würzelchen überall ein, schafft Risse, Spalten, Leerräume, in denen es sich mit seinen bescheidenen Horizonten ausbreiten kann.
    Zwei Jahre lang reiste ich mit der kleinen Laika durch das Land. Denn das hätte der Wolf nach seiner Befreiung getan – er wäre durch Berge und Täler gezogen, um sein Rudel zu finden. Ich wollte kein Rudel wiederfinden, sondern den Teil von mir, den ich unterwegs verloren hatte. Ich musste zu dem Augenblick zurück, an dem ich – anstatt zwei, drei oder vier Personen zu sein – eine einzige war. Matteo und sonst nichts. Als ich noch die Wolken betrachtete und ihnen Namen gab. Als ich dachte, dass auch die Gottesanbeterinnen wirklich beten könnten. An einem gewissen Punkt begegnet jeder von uns auf seinem Weg einer Maske – und genau dahin müssen wir zurück, mit einem Streichholz in der Hand. Feuer, das zerstört, Feuer, das heilt, Feuer, das reinigt. Feuer, das auch Wasser ist. Wasser, das die Erde tränkt, den Durst löscht, neues Leben hervorbringt. Wasser, das dir aus den Augen läuft und dich sehend macht.
    Ich wanderte ohne ein bestimmtes Ziel. Manchmal nahm ich einen Bus, bestieg einen Zug, manchmal schlief ich im Freien, dann wieder im Hotel oder im Gästehaus eines Klosters. Allen dafür offenen Menschen, die ich traf, stellte ich die gleiche Frage:
    »Wer ist Gott?«
    Ich bekam sehr viele Antworten, und keine war wie die andere.
    »Gott ist die Sonne.«
    »Gott ist der Wind.«
    »Gott ist jemand, den man fürchten muss.«
    »Gott ist niemand.«
    »Gott ist Freude.«
    »Gott ist ein Herr, den ich nicht haben will.«
    »Gott ist mein Geschlecht.«
    »Gott ist jemand, der uns strafen wird.«
    »Gott? Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
    »Gott ist der Weihnachtsmann.«
    »Gott ist eine rufende Stimme.«
    »Gott ist ein Traum unseres Geistes.«
    »Gott ist allmächtig.«
    »Gott? Welcher Gott? Meiner, deiner, unserer, ihrer?«
    »Gott ist der Grund unseres Daseins.«
    »Wer Gott ist? Ein Schauspieler, der seine Rolle nicht richtig gelernt hat.«
    »Gott? Gott ist Energie.«
    »Ein Sadist, der sein Gesicht verbirgt.«
    Im zweiten Winter meiner Wanderschaft wurde der Zug, in dem ich reiste, mitten in einer Ebene von einem plötzlichem Schneesturm gestoppt. Ich teilte das Abteil mit Laika und einer alten Dame. Das Licht ging aus und ebenso die Heizung. Die alte Dame hatte eine kleine Thermoskanne mit Tee dabei und ich meinen Schlafsack. Gegenseitig boten wir uns unsere Schätze an und erzählten uns dann – in der Schwebe in dieser stillstehenden Zeit, in dieser zufälligen Intimität – unsere Geschichten. Nach wenigen Worten entdeckte ich, dass auch in ihrem Rücken eine unsichtbare Harpune steckte. Sie kam aus Bozen, und am Anfang des Krieges, noch sehr jung, hatte sie Lea geboren, ein Kind mit Down-Syndrom. Ihr Mann, aus dem Großbürgertum und älter als sie, überredete sie mithilfe des Arztes sogleich, das Kind in ein Heim in Tirol zu geben. Damals wusste man nicht viel über diese Kinder, und sie an einem Ort weit weg unterzubringen, wo sich jemand um sie kümmerte, schien die beste Lösung zu sein. Tief innen spürte sie natürlich, dass die beste Lösung für beide gewesen wäre, das Kind bei sich zu haben, aber sie war »nur eine Frau« und zu jung, zu unerfahren, um ihren Willen durchsetzen zu können. Ihr Mann stellte ihr das Auto mit Chauffeur zur Verfügung, und einmal im Monat fuhr sie über die Grenze und besuchte die Tochter. Es waren kurze und peinliche Begegnungen. Sie wusste nicht, was sie sagen und tun sollte. Sie saßen mit der Betreuerin in einem kleinen Salon. »Da ist deine Mama!«, sagte diese und verbrachte die halbe Zeit mit dem Auspacken der mitgebrachten Geschenke, für die sich Lea aber kaum zu interessieren schien. Sie fixierte ihre Mutter mit ihren kleinen schrägen Augen und rollte weiter die dicke Zunge im Mund. Nur eine bunt bemalte Holzente – die man im Gehen an einer Schnur hinter sich herzog – weckte ihre Begeisterung. »Versteht Lea mich denn?«, fragte sie eines Tages die Betreuerin. Die zuckte mit den Schultern: »Ein bisschen vielleicht. Auf ihre Art, ja.« Doch die Kleine wuchs heran und war gut gepflegt, stets gewaschen, sauber, mit einer karierten Schürze und Zöpfchen mit Schleifen. Ab und zu unternahm die
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