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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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angeln ging und den Schiffen zusah. Einige Gebäude standen noch, andere waren verschwunden, vom Krieg verschluckt.
    Dann fuhr ich mit einem Leihwagen über Land, um das Haus ausfindig zu machen, in dem er geboren war. Überall standen Schilder, die davor warnten, auszusteigen und über die Felder zu gehen – sie waren alle vermint.
    Zum Schluss fand ich das kleine Landhaus, wo er glücklich gewesen war – die Bögen der Fenster und Türen waren aus Stein, und im Hof thronte eine mächtige Linde, darunter die verkohlten Reste einer Laube.
    Dies also war die Welt, die er gesehen hatte, diese Formen und Farben mussten die Anker gewesen sein, an die er sich klammerte, als die schwarze Tinte der Nacht versuchte, jeden Winkel seines Gedächtnisses zu überschwemmen. Ich streichelte den Baumstamm und spürte noch die Wärme jener Hand, die sich vor sechzig Jahren beim Versteckspielen auf dieselbe Stelle gelegt hatte. Im letzten Krieg war das Haus von einer Granate zerstört worden – es hatte kein Dach und keine Fenster mehr, jeder Balken war von schwarzen Brandspuren gezeichnet; an den Außenmauern sah man die Einschüsse der Maschinengewehrgarben.
    Am nächsten Tag, während ich auf die Fähre wartete, trank ich in einer Bar an der Strandpromenade ein Glas »Sangue Morlacco«, den Likör, von dem mein Vater so oft gesprochen hatte, denn der war – zusammen mit dem »Maraschino« – ein Wahrzeichen seiner geliebten Stadt. Wie viele Träume – und Schreckensschauer – hatte dieser Name mir in meinen Kindernächten bereitet! Es schien mir unmöglich zu sein, dass mein Vater Sehnsucht nach einem Getränk hatte, nach dem sich doch nur Vampire sehnen konnten. Ich trank langsam – letztlich verband das Blut alle Dinge, und dieses Blut würde mir zur Genesung verhelfen. Als ich das Gläschen auf dem Tablett abstellte, wusste ich, dass soeben wirklich zum letzten Mal Alkohol in meinen Körper gekommen war.
    Auf der Rückreise ergriff mich eine euphorische Aufregung. Endlich sah ich einen neuen Weg vor mir und fühlte, dass ich auch die Kraft besaß, ihn zu gehen. Dieser Weg hieß Larissa, der Engel, dem ich begegnet war. Schon von Zara aus rief ich meinen Kollegen an. »Wenn sie kommt«, sagte ich zu ihm, »dann halte sie auf! Sag ihr, es war ein Irrtum, sag ihr, ich bin schon unterwegs, wir werden das Kind behalten und für immer zusammenleben.«
    »Bist du betrunken?«, fragte der Kollege mit seinem üblichen Sarkasmus.
    »Noch nie war ich so nüchtern.« Meine Stimme klang wohl sehr aufgeregt.
    »Beruhige dich. Sie hat sich noch nicht blicken lassen.«
    Diese Antwort erfüllte mich mit ungewöhnlicher Freude. Alles war noch möglich! Im Lauf einer Woche würde es mir gelingen, mein Leben wieder in Gang zu bringen. Ich würde Mann, Vater und Arzt für sie sein, wie zu der Zeit, als wir zusammen waren, aber diesmal mit einem neuen Bewusstsein, denn ich hatte das bittere Kraut des Schmerzes gekostet.
    Wie kindlich ich immer noch war, wie töricht ich weiterhin in meinem narzisstischen Wahn befangen war!
    Larissa war nicht abtreiben gegangen, aber sie war aus der Bar verschwunden, in der ich sie kennengelernt hatte. Die Jalousien ihrer Wohnung waren heruntergelassen, und an der Sprechanlage antwortete niemand auf mein Klingeln.
    Daraufhin überlegte ich, zur Botschaft zu gehen, doch während ich die Nummer im Telefonbuch suchte, wurde mir klar, dass ich ihren Nachnamen nicht wusste. Auch in der Bar wussten sie ihn nicht, weil sie immer schwarzgearbeitet hatte. Vermutlich, sagten sie zu mir, hatte sie gar keine Aufenthaltsgenehmigung. Dann klapperte ich alle Treffpunkte ihrer Landsleute ab, doch alle schüttelten auf mein beharrliches Nachfragen den Kopf: »Larissa? Nie gehört. Nie gesehen.« Einer sagte sogar: »Sind Sie sich sicher, dass es sie gibt?«
    War ich mir sicher, dass es sie wirklich gab? Allmählich begann ich selbst daran zu zweifeln. Im Geist sah ich ihre Person nicht vor mir, denn tatsächlich hatte ich ja nie sie gesehen. Nur meine Gespenster hatte ich gesehen, meine Projektionen, das, was ich wollte, das sie wäre – die schmutzige Egoistin, die mich ausnützt, oder ein Engel, der mich retten kann. Von ihr war mir nur ein hauchdünnes Nachthemd geblieben, eine Zahnbürste, einige Papierfigürchen – die sie an einem verregneten Nachmittag ausgeschnitten hatte – und eine Tonbandkassette mit ihren Gesangsübungen. »Warum versuchst du nicht auch zu singen?«, hatte sie mich einmal gefragt.
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