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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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nächsten Tag fand die Beerdigung statt. Ich ließ ihm den Sextanten in den Sarg legen, den sein Vater ihm zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte und den er nie hatte benutzen können.
    Die Kirche war voller Menschen, es mussten Freunde aus den letzten Jahren sein, denn ich kannte sie zum größten Teil nicht. Don Marco, jener Pfarrer, mit dem ich nach deinem Tod eines Abends spazieren gegangen war, las die Messe. Da er meinen Vater seit vielen Jahren kannte, drückte er sich in seiner Predigt nicht vage aus, sondern sprach lange über ihn, seinen Mut, seine Großzügigkeit, seine Aufrichtigkeit. »Wir alle wissen«, fügte er hinzu, »dass er nicht gläubig war, jedenfalls nicht so wie wir, doch wir wissen auch – wir alle, die wir ihn gekannt haben –, dass wir von ihm und aus seinem Leben nur lernen können, wir, die wir schöne Worte im Munde führen, die sich sehr oft als hohl erweisen.«
    Das bewegte Schweigen, mit dem die Anwesenden die Überlegungen des Pfarrers aufnahmen, bezeugte ihre Wahrheit. In der Sakristei, bevor er das Messgewand anlegte, fragte mich der Pfarrer: »Möchten Sie auch sprechen? Möchten Sie etwas sagen?« Ich schüttelte den Kopf. So waren es seine Freunde, die im Lauf des Gottesdienstes an den Altar traten und Beiträge verlasen. Als ein Herr sagte: »Wir danken dir, Herr, für das Geschenk dieses gütigen Mannes, möge das Licht deines Antlitzes ihn strahlen lassen«, begann in mir etwas zu knirschen.
    Ich wusste, dass er gern in Zara beerdigt worden wäre, neben seinem Vater und seiner Schwester, hatte mich aber nicht rechtzeitig darum gekümmert. Im Grunde hatte ich nie an seinen Tod als etwas Reales gedacht. Nie sind wir wirklich für den Tod unserer Eltern bereit. Daher wurde er auf dem städtischen Friedhof begraben, neben meiner Mutter.
    Am selben Nachmittag holte ich Laika aus dem Tierheim. Als die Hündin mich sah, drehte sie sich vor Freude um sich selbst, doch kaum betraten wir die Wohnung, wurde sie traurig. Sie lief zwischen seinem Sessel und seinem Bett hin und her, dann wagte sie sich bis auf den Balkon und ging von dort ins Bad, schließlich blickte sie mich mit ihrer spitzen Schnauze an, als fragte sie: »Wo ist er?« Daraufhin gab ich ihr die Schlafanzugjacke meines Vaters, und sie trug sie sofort in ihr Körbchen, legte den Kopf darauf und schlief ein – mit seinem Geruch in der Nase konnte sie sich wenigstens der Illusion hingeben, er wäre noch da.
    Mir war diese Illusion nicht vergönnt. Ich war müde und verwirrt. Ich fühlte mich, als wäre ich lange auf einem dieser Karussells gewesen, die sich unablässig im Kreis drehen – wenn man aussteigt, bebt alles, und es scheint, als könne man auf nichts mehr vertrauen.
    Anstatt mich in mein Jugendbett zu legen, schlief ich in seinem Sessel ein. Bei Tagesanbruch wurde ich von einem Schiff geweckt, das in den Hafen einfuhr. Das Morgenlicht erhellte die Wohnung in ihrer beinahe fanatischen Ordnung. Da er allein und im Dunklen lebte, konnte sich mein Vater keinerlei Unordnung leisten. Ich wollte im Lauf des Vormittags die bürokratischen Formalitäten erledigen und begann die Schubladen zu öffnen. Die Rechnungen, die Verträge und sein Sparbuch lagen alle im Küchenbüfett. Daneben, mit einer Wäscheklammer beschwert, lag ein Umschlag, auf dem, mit Maschine getippt, mein Name stand. Ich setzte mich an den Tisch und öffnete den Brief vorsichtig mithilfe eines Messerchens. Laika, offenbar von meinem Vater daran gewöhnt, setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber.
    Lieber Matteo,
    ich nutze die Freundlichkeit von Don Marco, der angeboten hat, in die Maschine zu schreiben, was ich auf dem Herzen habe und sonst nicht ausdrücken könnte. Es gibt Briefe, die ein Vater lieber nie schreiben möchte, und dieser ist einer davon. Ich hätte direkt mit dir sprechen können, als du das letzte Mal hier warst, doch ich wusste, dass du mich mit der Stimme getäuscht hättest.
    Es ist der Geruch, der dir im Vorübergehen anhängt, der mich nicht täuscht. Du lässt dich gehen, du bist auf der schiefen Bahn, und das schmerzt mich zutiefst. Du kommst hierher und erzählst, dass alles gut geht, dass du Karriere machst. Du sprichst und sprichst, ohne je innezuhalten, und diese Redseligkeit, das weiß ich wohl, ist ein Zeichen deiner Krankheit. Glaubst du vielleicht, dass ich ein Dummkopf bin? Oder willst du mich irgendwie schützen, schämst du dich, mir die Verkommenheit zu zeigen, in die du allmählich hineinschlitterst? Das
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