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Die Aufsteigerin

Titel: Die Aufsteigerin
Autoren: Martina Cole
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Prolog

LONDON, 1995
    »Meinen Sie, dass sie durchkommt?«
    Tiefe Sorgenfalten zerfurchten das frühzeitig gealterte Gesicht des Polizisten. Auf seinem kahlen Schädel schimmerte ein leichter Schweißfilm.
    Der junge Arzt zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher, ob es in ihrem Sinne wäre. Allein ihr Gesicht haben wir mit über zweihundert Stichen nähen müssen. Ihre Nase war vollständig zertrümmert, und wir mussten an der Stelle operieren, wo man ihr den Schädel eingeschlagen hat. Sie müsste tot sein, denn eigentlich kann jemand, der so misshandelt wurde, gar nicht überleben. Und doch atmet sie, ihr Zustand ist stabil, ihre Vitalfunktionen sind gut, und die Knochen beginnen zu heilen. Solange sie jedoch nicht aus dem Koma erwacht - natürlich gesetzt den Fall, dass dies jemals geschieht -, können wir nicht feststellen, ob sie bleibende Hirnschäden davongetragen hat oder nicht. Wer auch immer ihr das angetan hat … Nennen wir’s beim Namen: Sie wurde in Streifen geschnitten - eine Brust praktisch abgetrennt. Es kann nur ein Wahnsinniger gewesen sein, der ihr das angetan hat. Mir ist so was noch nicht zu Gesicht gekommen.«
    Er sah hinunter auf die Patientin, auf die Nähte, die kreuz und quer über ihr übel zugerichtetes, angeschwollenes Gesicht verliefen, das sich wie eine furchterregende Maske vom weißen Kopfkissen des Krankenhausbettes abhob. Mit einer Frau hatte
dieses Wesen keine Ähnlichkeit mehr, vielmehr schien es einem Horrorfilm entsprungen.
    Das Surren der Apparate an ihrem Bett durchbrach die Stille, und der junge Arzt seufzte leise, beinahe unhörbar.
    »Wissen Sie, wer das getan hat?«
    Der Polizist nickte. »Sagen wir mal, ich kann mir recht gut denken, warum man sie zusammengeschlagen hat, und das ist doch ein Anfang, oder? Zu beweisen, dass der Dreckskerl ein Motiv hatte, wird ein hartes Stück Arbeit. Und ihn festzunageln, das wird noch schwieriger sein .«
    Er riss sich vom Anblick der Frau los und sah dem Arzt in die Augen. »Sie war eine sehr schöne Frau, ja, das war sie, meine Cathy. Nicht auf den ersten Blick, aber sie hatte Klasse. Hatte so was an sich. Wissen Sie, was ich meine?« In der Stille der Intensivstation klang sein Cockney-Akzent besonders schroff.
    Der Arzt lächelte schwach. »Sie kennen sie also?«
    Jetzt lächelte der Polizist, traurig und wehmütig. Seine Miene entspannte sich, und für einen kurzen Moment sah der Arzt einen ehemals attraktiven Mann mit markanten Gesichtszügen vor sich.
    »Ja, kann man wohl sagen. Jeder im Westend kannte Cathy, auf die eine oder andere Art. Unsere Wege kreuzten sich vor über zwanzig Jahren, kurz bevor sie nach Soho kam. Sie hat einen langen Weg hinter sich gebracht seit damals, einen sehr langen.«
    Er hielt inne, als habe er vergessen, dass der Arzt noch immer da war. »Ja, einen verdammt langen Weg. Gott sei ihr gnädig.«
    Zärtlich streichelte er ihren dünnen Arm. »Ihr gehört das Dukes - Sie wissen schon, die große Revuebar in Soho. Wo die Großen und die Guten sich zusammen mit den Nicht-so-Großen und Nicht-so-Guten tummeln. Aber bei alledem ist es doch ein anständiges Lokal. Die Touristen lieben es, besonders die deutschen. Männer in Frauenkleidern sind die große Attraktion. Es ist das La Cage von Soho, und die kleine Lady hier war die
Seele des Geschäfts. Cathy hatte nur das Problem, dass sie die Vergangenheit nicht hinter sich lassen konnte. Die blieb ihr immer auf den Fersen, und das ist jetzt das Resultat.«
    Der Arzt hörte den Mann schlucken, wusste, dass er gegen die Tränen ankämpfte. Also sah er weiterhin nur die Frau an.
    »Schlecht war sie nicht, meine Cathy. Glauben Sie mir. Wirklich nicht. Sie wollte sich einfach nicht unterkriegen lassen. Sie wollte überleben und tat, was nötig war, um es zu schaffen. Es ging immer nur ums Überleben. Sonst hat sie sich nichts zuschulden kommen lassen.«
    Der Arzt fasste die Schulter des Polizisten und sagte aufmunternd: »Also, hoffen wir, dass sie das hier überlebt, hm?« Aber in seiner Stimme schwang nicht viel Hoffnung mit. Insgeheim bezweifelte er sogar, dass die Frau je wieder die Augen öffnen oder gar jemanden erkennen würde. Um ihrer selbst willen hoffte er sogar, dass es nicht geschah, denn die Schläge hatten sie so zugerichtet, dass außer ihrer Haarfarbe nichts mehr da war, woran man hätte erkennen können, wie sie einmal ausgesehen hatte.
    »Im Grunde hatte sie nie eine Chance«, sagte der Polizist leise. »In Soho sterben die Frauen
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