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Das dunkle Lied des Todes

Das dunkle Lied des Todes

Titel: Das dunkle Lied des Todes
Autoren: Bjarne Reuter
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1
    Was sie auf dem Friedhof gemacht haben, weiß ich nicht, aber es sah aus, als ob sie irgendeiner Art von Kult angehörten.
    N.   Jacobsen, Gärtner
     
    Sie standen im Halbkreis um das Grab, und wie immer verging eine Weile, ehe sie sich endlich besannen und verstummten. Langsam, fast widerwillig, nahmen sie einander an den Händen, einige senkten die Köpfe, andere zeigten ihr Unbehagen, indem sie mit den Füßen im Kies scharrten.
    Anders schielte zu Betty hinüber, weil sie sonst den Spruch anstimmte, den sie im Chor aufsagten, zuerst auf Latein, dann auf Dänisch, aber an diesem Tag ließ Betty auf sich warten.
    Vibe und Tineke starrten in die Luft, als versuchten sie, ihr Kaugummikauen zu synchronisieren. Die Zwillinge Johan und Filip waren wie immer schwer zu durchschauen, aber sie taten es den meisten anderen nach, sie senkten die Köpfe und warteten darauf, dass irgendwer anfing.
    Julius Blumendorph schlug vor, sie könnten einfach
Leb wohl
und
war nett heute
sagen, aber niemand achteteauf ihn, abgesehen von Franz, der die Kette als Erster brach.
    »Ich war jetzt zum letzten Mal hier«, sagte er. »Ich hab einfach keinen Bock mehr auf den Quatsch. Das ist doch nur noch albern.«
    Thomas seufzte.
    »Bringen wir es hinter uns«, murmelte er.
    Anders, Betty, die Zwillinge, Vanessa und Thomas murmelten leise und stockend:
    »Caelum non animum mutant qui trans mare currunt.«
    Danach zog Betty einen kleinen Blumenstrauß aus ihrer Schultertasche und legte ihn vor den schwarzen Grabstein.
    »Himmel, aber nicht Gemüt wechseln die, die über das Meer fahren«, flüsterte sie, »und ich komme im Oktober zurück. Versprochen.«
    »Ich auch«, sagte Vanessa. »Ich werde mein ganzes Leben lang herkommen.«
    Franz trat vor sie. »Du kannst machen, was du willst«, sagte er. »Wichtig ist, dass du hältst, was du versprichst. Hast du getan, was dir aufgetragen worden ist?«
    Vanessa starrte zu Boden. Franz trat noch dichter an sie heran.
    »Antworte schon.«
    Betty nahm Vanessas Arm und zog sie weg.
    »Lass sie doch in Ruhe.«
    »Hast du es verbrannt, so wie es dir aufgetragen worden ist?«
    Franz’ Stimme war auf dem ganzen Friedhof zu hören.
    Die Gruppe am Grab löste sich auf.
    Vibe und Tineke gingen Arm in Arm den Weg entlang, hinter ihnen kamen die Zwillinge, gefolgt von Julius Blumendorph und Gustav.
    Betty schaute in die Luft und seufzte.
    »Wenn Vanessa sagt, dass sie es verbrannt hat, dann hat sie es verbrannt.«
    Franz ging rückwärts.
    »Ich war zum letzten Mal hier«, rief er. »Zum allerletzten Mal. Und der Teufel soll dich holen, Betty, und der Teufel soll dich holen, Maria Wagner.«
     
    Sie laufen um die Wette, Gustav und Franz. Ihre Schuhe schlagen auf den Kies. Franz rempelt im Vorbeilaufen Julius Blumendorph an. Der dicke Junge fällt vornüber und reißt Gustav im Sturz mit, aber Gustav ist schnell wieder auf den Beinen und stürzt hinter Franz her, der sich Vibes Baskenmütze geschnappt hat. Die fliegt wie ein Frisbee über die Gräber.
    Es fängt an zu regnen. Zuerst noch sanft, aber innerhalb weniger Minuten gießt es wie aus Eimern.
    Anders schaut hinter Vibe und Tineke, Franz, Gustav und den Zwillingen her, die das Tor zum Kirkegårdsvej geöffnet haben. Die Regentropfen haben ihre Umrisse fast verwischt.
    Betty sagt, sie wolle nach Hause und packen.
    Anders dreht sich zu Vanessa um.
    »Hast du das getan, was wir abgemacht hatten?«, fragt er. »Hast du es verbrannt?«
    Vanessa kämpft wie immer auf dem Friedhof mit den Tränen.
    »Ich konnte nicht«, flüstert sie.
    Thomas schüttelt den Kopf. Betty nimmt Vanessas Hand.
    »Mach es heute«, sagt sie. »Ehe wir aufbrechen. Dann ist es aus der Welt.«
    Vanessa zieht ihr Taschentuch hervor und wischt sich die Augen.
    »Es wird niemals aus der Welt sein«, flüstert sie. »Nie und nimmer.«

2
    Sie war in der Schule nicht sonderlich beliebt. Nach dem besagten Vorfall hätte sie niemals wieder eingestellt werden dürfen.
    Inger Astrup, Sekretärin
     
    Die Mozartschule bestand ursprünglich aus fünf Villen, die 1962 zu einer Privatschule für musisch besonders begabte Kinder umgebaut wurden. Die Schule lag im grünen Kern der Innenstadt und hatte ihr stilreines Aussehen mit hohen alten Bäumen und symmetrisch angelegten Wegen behalten. Die Wege verbanden die fünf Pavillons mit dem neuen Verwaltungsgebäude. Wenn man das Gelände betrat, hatte man das Gefühl, sich in eine Zeitnische zu begeben, der Verkehr der Großstadt war nur als fernes
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