Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
Vom Netzwerk:
sei mutig, hab hohe Ziele. Schenk mir an einem nicht zu fernen Tag die Freude, dich glücklich zu wissen, wieder offen für das Leben und seine ständige Erneuerung.
    Aber warte nicht zu lange, denn ich beginne mich ab und zu ein wenig müde zu fühlen. Den Tod fürchte ich nicht, denn wenn er da sein wird, werde ich nicht mehr da sein, doch würde ich es bedauern, nicht das Ende der Geschichte zu sehen. Don Marco behauptet, ich werde es auch aus dem Jenseits sehen. Und was sehe ich dann sonst noch? Er sagt: Alles, was ich hier nicht sehen konnte.
    Er glaubt daran, der Glückliche!
    Wie auch immer, wenn es so wäre, hoffe ich, eines Tages die Farben aller Weltmeere zu sehen – all die Schattierungen von Azur, von hellem Grün, von tiefem Blau. Ich hoffe, das Jenseits ist so weit und still und kristallin und majestätisch und in einen tiefen Atem eingehüllt, wie ich mir den Indischen Ozean vorstelle.
    Dein Vater
    Guido
    Am selben Morgen, nach meiner Rückkehr vom Standesamt, ging ich zum Pfarrer, um ihm zu danken. »Haben Sie die Antwort gefunden?«, fragte er mich.
    »Nein«, sagte ich, »aber vielleicht beginne ich, die Frage zu ahnen.«
    Am nächsten Tag bestieg ich mit Laika die Adria-Fähre. Auf Deck stehend, betrachtete ich zum ersten Mal alles aus der umgekehrten Perspektive – nicht das Schiff entfernte sich, sondern das Haus meiner Kindheit wurde immer kleiner, bis es schließlich am Horizont verschwand.

22
    Das Knirschen, das ich beim Begräbnis meines Vaters wahrgenommen hatte, war nichts anderes als der erste Riss, der sich in der Granitkathedrale auftat. Schon während ich mit dem Schiff der kroatischen Küste entgegenfuhr, lagerte der Seewind winzige Samen darin ab; ich fühlte mich außergewöhnlich und schmerzlich verwirrt, doch am Grund dieses Schmerzes glomm auch eine Art Schimmer – vielleicht war ich bei meinem unaufhaltsamen Abstieg zuletzt auf der anderen Seite der Erde angelangt und sah nun das Licht der Antipoden.
    Laika wich keinen Schritt von meiner Seite, ich konnte ihren anhänglichen, ergebenen, vertrauensvollen Blick kaum ertragen. Unweigerlich sah ich hinter ihren haselnussbraunen Augen die Augen meines Vaters, diese Augen, die ich nie gesehen hatte – und die mich nicht gesehen hatten – und die dennoch alles beobachtet und verstanden hatten. Ich trug seinen Brief in der Jackentasche und fühlte auf meiner Haut, dass genau dieser Punkt eine gewisse Wärme ausstrahlte. Scham war mir zuvor ein unbekanntes Gefühl gewesen. »Schäm dich!«, hatte Großmutter mich in meiner Kindheit angeherrscht, als ich mit der falschen Stimme der Gottesanbeterin ihre geliebten Gebete nachgeplappert hatte. Sie war die Einzige, die je dieses Wort gebraucht hatte. Das Geräusch ihrer knochigen Hand, die meinen Hinterkopf traf, dröhnte erneut in meinem Kopf, zusammen mit ihren Worten: »Schäm dich, mit diesen Dingen scherzt man nicht!«
    Ich stand am Heck an der Reling, betrachtete die Schaumspur, die die Schiffsschrauben hinterließen, und lauschte dem Brummen der starken Dieselmotoren, die die gleichen Worte zu wiederholen schienen: »Schäm dich schäm dich schäm dich.« Als ich in die Kabine ging, um mich schlafen zu legen, habe ich nie die Augen zum Spiegel gehoben. Während der Nacht kam Sturm auf, und Laika sprang winselnd aufs Bett. Einen Augenblick lang dachte ich: »Es wäre doch schön, jetzt unterzugehen«, aber gleich darauf graute mir vor der Vorstellung. War ich nicht schon tief genug gesunken? Auf einmal wollte ich meines Vaters und seiner Liebe würdig sein und seines Vertrauens, das er immer zu mir gehabt hatte – und das ich in meinem Zynismus nicht einmal mehr hatte erkennen können.
    Und während das Schiff von einer Seite zur anderen schlingerte, beschloss ich innerlich, in meinem Leben einen Punkt zu machen und von vorn zu beginnen. In dem Geist, den er mich gelehrt hatte. Sein Brief, der in meiner Tasche glühte, würde mein Zeuge sein, das Zeichen – das Brandmal – dessen, was ich hinter mir ließ. Ich würde ihn erst an dem Tag wieder öffnen, an dem seine Worte mir keinerlei Schmerz mehr bereiteten – an dem Tag, an dem jener Teil von mir sterben und ein anderer auferstehen würde.
    In Zara blieb ich einige Tage.
    Ich suchte das Grab meines Großvaters und meiner Tante und all jener, die mir hier vorausgegangen waren. Dann streifte ich durch die Stadt auf der Suche nach den Orten, von denen mein Vater mir erzählt hatte – seine Grundschule, die Mole, wo er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher