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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen
Autoren: Susanna Tamaro
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schon unruhig auf und ab. Mit der Laterne in der Hand habe ich mich zu ihr gesetzt, und wenig später kam, umhüllt von der glänzenden Fruchtblase, das Mäulchen des Neugeborenen zum Vorschein; es dauerte nur ein paar Minuten, dann war auch der ganze Körper da, und die Mutter begann, das Junge mit liebevoller Gelassenheit zu lecken, um es zu säubern. Gleich darauf hob das Kleine den Kopf, und ihre Nasen berührten sich. Als ich im Morgengrauen noch einmal nachschaute, stand das Lämmchen schon auf seinen vier Beinen und hing an der Zitze der Mutter – es saugte und bewegte sein Schwänzchen mit der Gelassenheit dessen, dem die Welt zu Füßen liegt.
    Alle Tierjungen sind hübsch, aber die Schäfchen strahlen immer etwas Besonderes aus – Freude und Unschuld in jedem Augenblick ihrer Existenz. Wenn sie auf die Weide kommen, hüpfen sie, laufen einander nach und wetteifern, wer den höchsten Platz erobert – einen umgedrehten Eimer, einen Schemel, eine kleine Bodenerhebung –, und von dort oben schubsen sie sich, schlagen aus, machen bizarre Sprünge. Doch kaum erscheint am Horizont eine wie auch immer geartete Bedrohung, suchen sie sofort Schutz zwischen den Beinen der Mutter. In wenigen Augenblicken finden sie alle – auch wenn es hundert, zweihundert, dreihundert sind – in der Herde diejenige wieder, die sie auf die Welt gebracht hat. Genauso machen sie es, wenn es Zeit wird zum Stillen – die Muttertiere rufen, und sie eilen herbei. Dann breitet sich auf der Weide das große Schweigen des Saugens aus, und danach hört man nur vereinzelt gedämpftes Blöken, während die Kleinen – die Augen halb geschlossen und die Beine unter dem Körper gefaltet – im Schatten ihrer Mütter ein Schläfchen halten.
    »Wie kann man so ein Geschöpf töten?«, fragen mich die Menschen aus der Stadt häufig, wenn sie hier vorbeikommen.
    »Wie kann man sich das Leben ohne den Tod vorstellen?«, frage ich dann zurück.
    Sie sehen mich ratlos an. Manche bieten mir Geld an – sie wollen ein Lämmchen adoptieren, damit es bis ans Ende seiner Tage leben kann. »Ich töte sie nicht«, versichere ich ihnen, »doch unweigerlich kommt der Tag, an dem man gezwungen ist, welche zu schlachten.«
    »Warum?«
    »Weil für viele Schafe ein einziger Bock genügt. Das ist ein Naturgesetz.«
    »Dann ist die Natur grausam«, erwidern sie empört.
    »Die Grausamkeit ist die erste Antwort.«
    »Und die zweite?«
    »Die zweite ist, dass sie von uns verlangt, sie zu verstehen.«
    Weißt du, vielleicht habe ich erst hier oben – erst in diesen fünfzehn Jahren der Ferne und des Nachdenkens – den tieferen Sinn deines Bedürfnisses nach Alleinsein am Morgen wirklich verstanden. Ohne Alleinsein gibt es keine Möglichkeit, den Sinn der Zeit zu begreifen. So, wie das Lamm von der Mutter genährt wird, nährt sich unsere Zeit von der Ewigkeit. Sich außerhalb dieser Mütterlichkeit zu stellen bedeutet, sich jeder möglichen Antwort auf die Frage nach dem Sinn zu verschließen.
    Du bist in meinem Leben erschienen, und dann bist du auf einmal gegangen, und ich bin jahrelang wütend dem nachgejagt, was ich verloren hatte, ohne mir bewusst zu machen, dass ich mich nicht auf die Abwesenheit an sich konzentrieren musste, sondern auf die Bedeutung, die dieser Verlust für mein Leben hatte.
    Du hast dich zurückgezogen, damit ich wachsen konnte.
    Solange ich das nicht verstanden habe, war dein Opfer nutzlos. Das klingt schrecklich – grausam wie das Gesetz der Lämmer –, dennoch ist es so. Innerlich lebt man immer mit dem Tod neben sich – dem Tod der Menschen, die wir lieben, und dem Tod jener Teile von uns, die wir töten müssen, um voranzugehen.
    Viele, zu viele Jahre habe ich mich an die Erinnerung an dich geklammert wie ein Schiffbrüchiger an ein Rettungsboot. Du warst einfach zum Fetisch geworden, dem ich mit meinen schwächsten Seiten huldigte. Und ich begann erst dann wieder, dich als lebendig zu empfinden, als ich Wut und Selbstmitleid durch das Gefühl der Dankbarkeit ersetzt habe. Du hast ja mit deiner Liebe den leeren Raum ausgefüllt, den ich in mir hatte, dein inneres Licht war auch das meine. Sosehr ich mich auch bemüht habe – viel zu lange –, diese Leere mit Müll zuzudecken, an einem bestimmten Punkt tauchte die Sehnsucht nach diesem Licht wieder auf. Woher kam es? Wie sollte, konnte ich es wieder in mir zum Leben erwecken?
    Das Gespräch mit der Dame im Zug war ein wesentlicher Schritt. Monatelang dachte ich
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