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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer
Autoren: Daniel Silva
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PROLOG - SCHWEIZ, 1975
    Marguerite Rolfe grub in ihrem Garten wegen der Geheimnisse, die sie im Arbeitszimmer ihres Mannes entdeckt hatte. Für Gartenarbeit war es schon spät, unterdessen weit nach Mitternacht. Das Frühlingstauwetter hatte den Boden feucht und weich gemacht, und ihr Spaten drang ohne große Mühe in das Erdreich ein, so daß die Arbeit fast geräuschlos vonstatten ging. Dafür war sie dankbar. Ihr Mann und ihre Tochter schliefen in der Villa, und sie wollte die beiden nicht wecken.
    Warum konnte es nicht etwas so Simples wie Liebesbriefe von einer anderen Frau gewesen sein? Dann hätte es einen tüchtigen Krach gegeben, bei dem Marguerite ihre eigene Affäre gestanden hätte. Die jeweiligen Partner wären in die Wüste geschickt worden, und in ihrem Haus wäre bald wieder Normalität eingekehrt. Aber sie hatte keine Liebesbriefe gefunden - sie hatte etwas viel Schlimmeres entdeckt.
    Einen Augenblick lang gab sie sich selbst die Schuld. Hätte sie nicht in seinem Arbeitszimmer herumgeschnüffelt, hätte sie die Photos niemals gefunden. Sie hätte den Rest ihres Lebens in seliger Unwissenheit verbringen und weiterhin glauben können, ihr Gatte sei der Mann, der er zu sein schien. Aber jetzt wußte sie Bescheid. Ihr Ehemann war ein Ungeheuer, sein Leben eine Lüge, eine komplette und sorgfältig aufrechterhaltene Lüge.
    Deshalb war auch ihr eigenes Leben eine Lüge.
    Marguerite Rolfe konzentrierte sich auf ihre Arbeit, mit der sie langsam und gleichmäßig vorankam. Nach einer Stunde war sie fertig. Ein gutes Loch, fand sie: fast zwei Meter lang und sechzig Zentimeter breit. Zwanzig Zentimeter unter der Grasnarbe war sie auf eine steinharte Tonschicht gestoßen.
    Deshalb war die Grube etwas flacher, als sie es sich gewünscht hätte. Aber das spielte keine Rolle. Sie wußte, daß das hier nur  ein Provisorium war.
    Sie hob die Flinte auf. Dies war die Lieblingswaffe ihres Ehemanns: eine fein ziselierte Schrotflinte, die ein Mailänder Büchsenmacher für ihn angefertigt hatte. Jetzt würde er sie nie mehr benützen können. Das gefiel ihr. Sie dachte an Anna. Bitte wach nicht auf, Anna. Schlaf, mein Herz.
    Dann trat sie in die Grube, streckte sich auf dem Rücken liegend darin aus, nahm die Flintenmündung zwischen die Zähne und betätigte den Abzug.
    Das Mädchen wurde von Musik geweckt. Sie kannte das Stück nicht und fragte sich, wie es seinen Weg in ihren Kopf gefunden hatte. Die Musik hallte noch einen Augenblick nach, eine Folge von absteigenden Noten, ein heiteres Diminuendo. Ohne die Augen zu öffnen, streckte sie eine Hand aus und tastete das Bett neben sich ab, bis ihre Handfläche den Körper fand, der ganz in ihrer Nähe lag. Ihre Finger glitten über die schmale Taille, den schlanken, grazilen Hals hinauf bis zu den elegant geschnitzten Kurven der Schnecke. Gestern abend hatten sie sich gestritten.
    Jetzt wurde es Zeit, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen und Frieden zu schließen.
    Sie stand langsam auf, schlüpfte in ihren Morgenrock. Vor ihr lagen fünf Stunden, in denen sie üben würde. Sie war dreizehn Jahre alt, es war ein strahlend schöner Junimorgen, und so würde sie diesen Tagverbringen - und alle weiteren Tage dieses Sommers.
    Sie streckte ihre Nackenmuskeln und warf einen Blick aus dem Fenster in den blühenden Garten - eine Symphonie aus Frühlingsfarben. Hinter dem Garten stieg das Gelände auf dieser Talseite steil an. Hoch über allem ragten schneebedeckte Berggipfel auf, die in der gleißend hellen Sommersonne glänzten. Sie drückte die Violine unter ihr Kinn und bereitete sich darauf vor, die erste Etüde zu spielen.

    Dann fiel ihr etwas im Garten auf: ein Erdhaufen, eine längliche, schmale Grube. Von ihrem Aussichtspunkt am Fenster konnte sie den bauschigen weißen Stoff sehen, der das untere Ende verdeckte, und bleiche Hände, die den Lauf einer Waffe umklammert hielten.
    »Mama!« kreischte sie, und die Violine krachte zu Boden.
    Sie stieß die Tür des Arbeitszimmers ihres Vaters auf, ohne anzuklopfen. Sie hatte erwartet, ihn an seinem Schreibtisch sitzend, über sein Hauptbuch gebeugt vorzufinden, aber statt dessen hockte er auf der Vorderkante eines hochlehnigen Ohrensessels am Kamin. Er war ein kleiner, elfenhaft zierlicher Mann, der zu seinem blauen Blazer wie immer eine gestreifte Krawatte trug. Er war nicht allein. Trotz des maskulinen Halbdunkels, das hier im Arbeitszimmer herrschte, trug der zweite Mann eine Sonnenbrille.
    »Kind, was fällt dir
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