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Masala Highway

Titel: Masala Highway
Autoren: Gabriel A Neumann
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lieber ab und zu das, was ich über Bettlerkriminalität und Kinderausbeutung gehört habe, zu vergessen und die zwanzig Eurocent, die „Tenrupeessir“ wert sind, zu verschenken.
    Jede Reise endet mit einer Ankunft. Wenn die Fahrt länger als ein paar Stunden dauert, und man als einer von wenigen Touristen auf den Bahnsteig stolpert, ist das durchaus anstrengend: Von drei Seiten zugleich stürzen die Fragen auf mich ein: „Welches Hotel?“; „Hotel Yogi, ja?!“; „Rikscha!“; „Ihre Tasche bitte, Sir!“; „Hello, friend!“ – je größer und bei Touristen beliebter die Stadt ist, umso eher kann man davon ausgehen, von einer Abordnung der besten Touristenschlepper im Umkreis empfangen zu werden. Habe ich auf der Reise gute Bekanntschaft mit Indern geschlossen, die im gleichen Bahnhof aussteigen, bitte ich sie, sie noch bis zum Bahnhofsausgang begleiten zu können: Inder sind sehr viel weniger interessant für die Schlepper, und im Schlepptau eines Ortsansässigen bleibe ich auch von den meisten Zurufen verschont. Trete ich allein auf den Bahnsteig, schütze ich vor, ein Ziel zu haben. Möglichst freundlich, aber sichtlich desinteressiert an den Angeboten gehe ich durch die Traube von Menschenfreunden, in Richtung eines Rikscha- oder Tuktuk-Standes möglichst weit vom größten Trubel. Eigentlich schade, denn so ein indischer Bahnhof ist wie ein Langstreckenzug eine eigene kleine Welt für sich – voller Begegnungen, Überraschungen, merkwürdigen Klängen und unverhofften Eindrücken. Deshalb komme ich bei der Ankunft nie auf den Gedanken zu überprüfen, ob und wie viel Verspätung der Zug hat. Die Reise war ein Erlebnis, das braucht eben seine Zeit.

Vier Stunden, zwei Pausen, eine andere Welt
    Der Rikschawalla ist sofort im Bilde. Oft ist es schwierig, sich mit den Fahrern der Trettaxis über Existenz und Lage eines Fahrtziels einig zu werden. Aber diesmal ist es ein Kino. „Achaa!“ 1 , ruft er und fängt zu summen an, während er die Pedale zum Rotieren bringt. Er kennt nicht nur das Kino, er weiß auch sofort, welcher Film dort gerade läuft, und die Melodie, die er summt, ist der Song des Soundtracks, der seit Wochen überall zu hören ist. Seine Begeisterung für den Fahrgast ist kaum zu bremsen: „Welche Filme haben Sie schon gesehen? Mögen Sie indisches Kino? Wer sind Ihre Lieblingsschauspieler? Meine sind …“, und es folgt eine Aufzählung eines Dutzends von Namen – darunter nicht nur die der großen Megastars. Ein Fachmann! Als wir das Kino erreichen, ist seinen Augen anzusehen, dass er am liebsten mit reinkommen würde. Vier Stunden Kino, das sind für Millionen Inder vier Stunden Wunderwelt, Tanz, Musik, Sorgenfreiheit. 2
    Indien ist eine kinobegeisterte Nation. Jedes Jahr entstehen auf dem Subkontinent mehr Kinofilme als in jedem anderen Land. 2005, als zum ersten Mal die Produktionszahl die Eintausendermarke überstieg, waren es sogar mehr als in allen damaligen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen: 1 041 Titel sollen in diesem Jahr fertiggestellt worden sein. Relativ zur Bevölkerungszahl fällt das Kinoland Indien mit seiner Produktion zwar auf die mittleren Plätze zurück – pro Kopf gerechnet führt das kleine Island die Liste der filmschaffenden Länder an. Dafür sorgen die Inder nicht nur vor den Kinokassen regelmäßig für lange Schlangen, sondern sind auch laut Statistik begeisterte Filmfans: Sieben Milliarden Kinobesucher wurden 2002 gezählt – vom Greis bis zum Säugling hätte jeder Inder in einem Jahr fast sieben Mal ins Kino gehen können. Zum Vergleich: Die Deutschen schaffen es durchschnittlich nicht einmal zweimal jährlich in den Kinosaal.
    Bollywood ist seit ein paar Jahren auch den Deutschen ein Begriff. Seit Privatfernsehsender indische Kassenschlager in deutscher Synchronisation zeigen, Kultur- und Spartenkanäle die gleichen Filme mit ein paar Dokumentationen verbinden und im Rahmen von Thementagen präsentieren, kann man auch im Elektronikdiscounter DVDs mit Schauspielern wie Shah Rukh Khan bekommen. Volkshochschulen und Fitnessstudios bieten Bollywood-Tanzkurse an. Der Spitzname der Produktionsstadt Mumbai, den sie erhielt, als sie noch Bombay hieß, ist zum Markenzeichen für indisches Kino geworden: Wer Bollywood sagt, meint bunte, lustige, in ihrem Handlungsablauf etwas verwirrende und mit überraschenden Tanzeinlagen garnierte Filmspektakel.
    Das ist ein Fortschritt im Vergleich zu der Zeit, als indische Filme in Mitteleuropa
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