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Der negative Erfolg

Der negative Erfolg

Titel: Der negative Erfolg
Autoren: Gerhard Branstner
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Die unteren Klassen konnten mit dieser Auffassung von der Sache natürlich nicht einverstanden sein und stellten sie in Frage. Die Frage der Bescheidenheit ist also ursprünglich im direkten Sinne des Wortes eine Klassenfrage. Und ich gestehe, daß ich mich besser befunden hätte und mich heute nicht mehr am Leben befände, wenn ich ausschließlich in diesem Sinne gestellt worden wäre. Doch leider unterfingen sich in der Folge auch die Angehörigen der unteren Klassen, sich gegenseitig zur Bescheidenheit anzuhalten, so daß es ihnen immer schwerer wurde zu erkennen, daß ihnen diese Tugend ursprünglich nur von ihren ärgsten Feinden zugemutet worden war. Es läßt sich denken, daß ich dadurch ziemlich verworren wurde, was meine Lösung erheblich erschwerte.
    Aber ich konnte mich nicht darüber freuen. Die meisten Fragen freuen sich ja diebisch, wenn sie recht verworren sind, denn die verworrensten Fragen leben bekanntlich am längsten. Ich hingegen darf, ohne unbescheiden zu sein, von mir sagen, daß ich lieber mein Leben lang eine klare Frage gewesen wäre, auch wenn das mein Leben ungemein verkürzt hätte, denn klare Fragen werden schneller gelöst, die Lösung aber ist unser Tod. Doch zurück zu meiner Verworrenheit. Mit der war ich leider noch nicht am Ende, oder, anders gesagt, noch nicht auf dem Höhepunkt angelangt. Den Höhepunkt meiner Verworrenheit erreichte ich erst, als die unteren Klassen die Welt von unterst zuoberst kehrten und sich anschickten, die Spaltung der Menschheit aufzuheben. Da sie damit auch den Ursprung meiner Existenz aufhoben, hätte man denken sollen, daß es mit mir Hals über Kopf aus und zu Ende gewesen wäre. Aber nichts dergleichen, im Gegenteil. Ich wurde geradezu neu belebt, und das auf die schrecklichste Art. Ich wurde aufgeworfen, hart in den Raum gestellt, für hinfällig erklärt, als erledigt angesehen, um im nächsten Augenblick wieder auf- und in die Debatte geworfen zu werden, mit einem Wort: ich war in aller Munde. Und wenn ich auch nicht gerade angebissen wurde, so wurde ich doch angeschnitten, aufgerissen, an den Haaren herbeigezogen und sogar überschlafen. Was letzteres betrifft, so habe ich da einen äußerst unangenehmen Fall in Erinnerung. In einer Gewerkschaftsversammlung wurde der Betriebsleiter kritisiert, da er, so sagte man, die Initiative der Werktätigen mißachtet habe. Nachdem ein Weilchen hin und her gerätselt worden war, worin die Ursache dieses kritikwürdigen Verhaltens zu suchen sei, rief endlich einer, das sei eine Frage der Bescheidenheit. Da der Betriebsleiter das jedoch nicht sogleich wahrhaben wollte, riet man ihm, mich mal zu überschlafen. Nun war der Mann aber wohlbeleibt, um nicht zu sagen, übermäßig dick, und er schwitzte unter den Armen.
    Ich gestehe, auch wenn mich dies hart ankommt, denn es berührt den peinlichsten Punkt in meinem Leben, ich gestehe, daß ich in der Nacht, in der ich von dem Manne überschlafen wurde, ums Leben gern Selbstmord verübt hätte. Doch leider ist uns Fragen dieser letzte Ausweg verwehrt. Eine Frage endet allein durch ihre Lösung. Also war ich gezwungen, mich von dem Dicken beschlafen, Verzeihung, ich gerate noch jetzt ganz durcheinander, wenn ich nur an diese Nacht denke, wollte sagen, ich mußte mich, ob ich wollte oder nicht, von dem schwitzenden Leiter überschlafen lassen, ohne auch nur den Trost zu haben, daß er wenigstens ein Stück mit mir vorangekommen wäre, denn als ich, noch völlig zerknautscht, am nächsten Tag wieder aufgeworfen wurde, zeigte mein Dicker noch immer keine Einsicht. Ich fürchtete schon, daß man ihm anraten würde, noch einmal mit mir zu Bett zu gehen, doch eben da verband man mich mit der Frage der kollektiven Leitung. Das war eine nette Abwechslung für mich, denn ich war lange nicht im Zusammenhang gestellt worden. Wer weiß, daß es unserer Natur entspricht, mit unseresgleichen verbunden zu werden, kann sich denken, daß wir nur auf derartige Gelegenheiten warten, um uns gegenseitig mitzuteilen, was wir seit der letzten Verbindung an Freud und Leid erfahren haben, wobei ich immer wieder feststellen muß, daß es uns im Grunde genommen allen gleich ergeht. Auch die Frage der kollektiven Leitung machte da keine Ausnahme. Nachdem sie, wie sie mir klagte, lange Zeit unterdrückt oder sogar totgeschwiegen worden war, hatte man sie wieder aufgefrischt, erneut gestellt, hingeworfen, aufgetischt und, was man gewöhnlich nur mit Tieren macht, aufgezäumt, meistens allerdings
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