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Der negative Erfolg

Der negative Erfolg

Titel: Der negative Erfolg
Autoren: Gerhard Branstner
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eine Aufklärung zu geben, um nicht den Zorn aller auf mich zu lenken. Denn mit dem Stuhl hatte alles angefangen.
    »Gewiß war ein Selbstschuß im Vertiko angebracht«, sagte ich. »Der Einbrecher hat ihn ausgelöst, als er das Fach aufbrach.«
    »Das Blut kommt aber aus dem Rücken«, sagte Baltus. »Also kann es nicht das Vertiko gewesen sein.«
    »Vielleicht hatte das Vertiko eine Ladehemmung«, gab ich zu bedenken, »und der Schuß ging erst los, als der Einbrecher ihm den Rücken kehrte.«
    Baltus wollte auch gegen diese Version protestieren, da kamen meine Schwester und ihr Mann herein, setzten sich vor den Bildschirm und unterbanden weitere Diskussionen.
    »Haltet gefälligst den Mund«, sagte meine Schwester. »Wir wollen den Krimi zu Ende sehen. Wenn es euch nicht paßt, könnt ihr ja solange rausgehen!«



 
     
     

Wir gingen jedoch nicht hinaus, sondern sahen uns den Krimi gemeinsam bis zum Ende an. Danach aber entspann sich eine seltsame Unterhaltung, denn jeder versuchte glaubhaft zu machen, daß er sich den Krimi eigentlich gar nicht hatte ansehen wollen. Nur war eben bei jedem etwas dazwischengekommen, und so hatte es sich ganz zufällig ergeben, daß sich alle vor dem Bildschirm wiedertrafen. Am glaubwürdigsten war noch die Erklärung meiner Schwester. Wie sie behauptete, wollten die Nachbarsleute unbedingt einen Krimi sehen.
    »Da haben wir uns dazugesetzt«, sagte meine Schwester.
    »Dann habt wenigstens ihr gesehen, wer den Einbrecher erschossen hat!« rief Baltus. »Wer war es?«
    »Das weiß ich nicht«, entgegnete meine Schwester. »Als der eine Einbrecher meinte, der Schmuck müsse in dem Fach des Vertikos sein, dachte ich an meinen Schmuck. Den bewahre ich doch im gleichen Fach auf. Und da habe ich keine Ruhe mehr gehabt, und wir sind nach Hause gegangen. Der Schuß muß unterwegs gefallen sein, denn als wir hier ankamen, lag die Leiche schon vor dem Vertiko.«
    Wir gaben es auf. Es war einfach nicht herauszukriegen, wer den Einbrecher erschossen hatte.
    Mein Schwager, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte, blickte auf die Uhr und meinte: »Da wir nun wieder beisammen sind, könnten wir vielleicht doch noch was Gemeinsames unternehmen. Wir haben noch Zeit. Wie wärs mit dem Theater?«
    »Theater?« Bibbi rümpfte die Nase. »Mit der Familie ins Theater! So was ist seit langem Mode. Wenn wir schon was Gemeinsames unternehmen, muß es was Besonderes sein.«
    »Sie spielen aber ein neues Stück«, sagte mein Schwager.
    »Das war vor dreißig Jahren vielleicht was Besonderes«, entgegnete Baltus. »Heutzutage kommen doch dauernd neue Stücke auf die Bühne.«
    Mein Schwager gab es noch immer nicht auf. »Es soll aber ein ganz miserables Stück sein.«
    »Wirklich?« riefen alle wie aus einem Munde. »Da müssen wir unbedingt hin! Miserable Stücke sind eine große Rarität geworden, womöglich ist es das letzte von der Sorte.«
    Mein Schwager atmete auf. Endlich hatte er das Spiel gewonnen.
    »Hoffentlich«, sagte meine Schwester, »haben sie das Stück nicht schon abgesetzt, wenn es so miserabel ist.«
    »Der Autor selber«, erklärte mein Schwager, »hat gleich nach der Premiere gefordert, das Stück abzusetzen. Die Zuschauer haben nämlich fürchterlich gelacht. Der Autor aber hatte geglaubt, etwas ganz und gar Ernstes geschrieben zu haben.«
    »Und weshalb hat man die Forderung des Autors nicht erfüllt?« wollte Bibbi wissen.
    »Weil das Publikum es nicht zuläßt«, sagte mein Schwager. »Die Leute behaupten, so was Komisches hätten sie lange nicht mehr erlebt. Sie sind ganz verrückt auf das Stück und lachen sich krank. Am meisten aber lachte der Regisseur. Er mußte deshalb sogar den Arzt aufsuchen. Er hat eine Zwerchfellentzündung, und es soll sehr ernst um ihn stehen.«
    »Auf ins Theater!« riefen alle. »Hoffentlich kriegen wir noch Plätze.«
    Sehen Sie, das ist die Geschichte, wie sie nur um das Jahr zweitausend herum geschehen konnte. Diese Zeit, das kann ich heute mit sicherem Abstand sagen, war die Wasserscheide des ästhetischen Geschmacks. Vorher und nachher wäre es unmöglich gewesen, einen Krimi ernst zu nehmen und sich zugleich über ein schlechthin ernstes Stück krank zu lachen. Und wann anders, frage ich Sie, wäre es möglich gewesen, daß die Leute ins Theater strömen, um das vielleicht letzte miserable Stück noch mit eigenen Augen zu sehen?
    Ich bitte Sie deshalb, mich nicht weiter zu fragen, was wir damals, etwa um das Jahr zweitausend herum, so alles
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