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Masala Highway

Titel: Masala Highway
Autoren: Gabriel A Neumann
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meiner Lieblingsklasse, der „Second class three-tier Non-AC“, deren Abteile zum Gang hin offen sind, kann das zum Problem werden: Die Konzentration von so viel Exotik auf sechs Liegen zieht indische Neugierige aus den umliegenden Abteilen magisch an. Meist bleibt alles freundlich – manchmal kommt man sich aber auch wie ein Tanzbär im Zoo vor.
    Netter kann es da sein, in einem normalen Abteil zu reisen und sich von den indischen Mitreisenden adoptieren zu lassen – so hat man schnell Ruhe vor zu vielen Besuchern. Freilich bleibt es Glückssache, wie man sich mit den Mitreisenden versteht. Auf eines kann man sich aber in einem indischen Zugabteil verlassen: Die Neugier, die dem Reisenden entgegengebracht wird, ist groß.
    Die Fragen, wie sie mir der Stationsvorsteher in Maharashtra stellte, sind oft nur der Anfang eines längeren Gesprächs. Fotos helfen, Sprachgrenzen zu überbrücken – deshalb klebe ich in meinen Reisekalender gerne ein paar Bilder von meiner Familie, meiner Straße in Deutschland und wichtigen Orten in meinem Leben ein. Mit großem Hallo wird das Büchlein im Abteil herumgereicht, die Schönheit meiner Heimatstadt gelobt und der Bart meines Vaters bewundert und bei dem Bild mit meiner Nichte und meinem Neffen dreimal nachgefragt, ob das nicht doch meine Kinder seien? Alt genug wäre ich ja!
    Im Gegenzug erfährt man manches aus dem Leben der Passagiere: Einer meiner Mitfahrer stellt mir seine Familie vor, die die kranke Tante in der fünfhundert Kilometer entfernten Stadt besucht, um dieser am Krankenhausbett Beistand zu leisten. Alle, alle kommen mit, die Familie steht, sitzt und liegt komplett im Waggon, von der uralten und knochendürren Urgroßmutter bis zum Säugling. „Wir können doch niemanden zu Hause lassen!“, sagt der Mann. Auf einer Fahrt von der Ostküste nach Bombay spreche ich mit zwei jungen Studenten, die in Bangalore Informatik und Agrarwissenschaften studieren und in der vorlesungsfreien Zeit nach Hause fahren – endlich, sie waren vorher noch nie so weit weg von ihrer Familie. Sie sind sehr neugierig auf Europa und Deutschland und fragen, wie man dort lebt, wie lang ein Flug dauert, was ich dort arbeite und verdiene.
    „Wie teuer ist ein Flugticket nach Deutschland?“
    Die Frage bringt mich in eine Zwickmühle. Mein Flug hat etwa das Fünfzigfache dieser Bahnfahrt gekostet – das klingt nach viel Geld und macht mich so reicher, als ich bin. Und die Frage nach den Kosten einer Reise zieht weitere Fragen nach sich: Für einen Besucher aus dem Westen ist es viel einfacher, Indien zu besuchen, als für die meisten Inder, einmal Europa zu sehen. Mein Pass liegt zu Hause in der Schublade, von klein an bin ich es gewohnt, andere Länder und fremde Kulturen zu besuchen. Diese beiden Jungs müssten Geld haben – nicht unmöglich, wenn sie einen guten Abschluss machen. Sie müssten ein paar bürokratische Hürden überwinden, aber vor allem müssten sie sich auf ein ganz anderes Land einstellen. Ein Land, in dem gar nicht so wenige die Angehörigen von Großfamilien als soziale Problemfälle ansehen, in dem das Klima deutlich kälter ist und das Essen kaum gewürzt. Für viele aus der jungen Generation mag so etwas wohl kein Problem sein, aber für diese beiden, die bisher kaum aus ihrem Vorort von Bombay und ihrem Universitätscampus herausgekommen zu sein scheinen? „Warum wollt ihr eigentlich in Europa leben?“, frage ich – wenn sie ihre Familie schon vermissen, nachdem sie ein halbes Jahr in Bangalore verbracht haben. Es stellt sich heraus, dass sie nicht viel über Deutschland wissen, außer dass es einmal zwei davon gab – „und wir kennen Ballack, Klinsmann“. Trotzdem sind sie fasziniert von dem Gedanken, einmal dort arbeiten zu können, für ein paar Jahre. Ob einer von ihnen sich den Traum erfüllt?
    Ein früher Blick aus dem vergitterten Fenster am Morgen ist nicht ohne Risiko. Die Chance ist groß, dass man einiges über die Verdauung und Toilette der indischen Landbevölkerung lernt. Immer wieder gibt es Siedlungen in der Nähe der Trassen – und ihr nächster Umkreis ist oft das öffentliche Klo. So sieht man im Morgengrauen Dorfbewohner schön in einer Reihe hocken, den Behälter mit Wasser für die Hygiene danach neben sich, voneinander getrennt durch ein paar dürre Büsche, aber bestens erkennbar für die Blicke aus dem vorbeifahrenden Zug.
    Wenn die Zeit zum Aufstehen gekommen ist, haben im Abteil diejenigen Pech, die auf den mittleren der
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