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Masala Highway

Titel: Masala Highway
Autoren: Gabriel A Neumann
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kollektive Gedächtnis Indiens mit einem seiner bedeutendsten Staatsoberhäupter verbindet.
    Das Gespräch zwischen dem ausländischen Passagier und dem Stationskönig gerät etwas ins Stocken, denn sein Englisch und mein Hindi reichen nicht für tiefere Erörterungen aus. Ich schaue mich von meinem Stuhl aus um: Das Büro ist riesig, der Bahnhof stammt noch aus Kolonialzeiten. Über unserem Kopf dreht sich ein uralter, riesiger Deckenventilator, flankiert von Leuchtstoffröhren, die man mit einem Metallgestänge nachträglich an der Decke befestigt hat. An zwei Wänden stehen Regale, deren oberste Fächer mit Massen von verstaubten Akten vollgestopft sind. Ob das wohl die Fahrpläne nie angekommener Züge sind, frage ich mich – und ob mein Zug nach Nagpur dort auch verzeichnet ist? An der dritten Wand, hinter meinem Gastgeber, hängt ein verblichenes Plakat, außerdem ist daneben ein großes Fenster mit verrammelten Läden, nur ganz oben dringt Tageslicht durch eine offene Klappe. Auch auf der Fensterbank stapeln sich Papiere.
    Während wir weitersprechen, läuft plötzlich eine Ratte über die Stapel am Fenster, springt hinunter und verschwindet, nachdem sie quer durch den Raum gerannt ist, unter einem Regal. „No problem“, kommentiert mein Gastgeber meinen überraschten Blick auf den Nager betont knapp und redet ungebremst weiter. Gerade noch zeigte mir der Stationsvorsteher anschaulich, dass er hier der Boss ist, doch nun scheint es für ihn absolut unproblematisch zu sein, sein Büro mit einem Nager und vermutlich dessen weitverzweigter Familie zu teilen. Ein klarer Fall von „No problem“, Kategorie Nummer drei. Indische Häuser werden nicht nur von Menschen bewohnt. Ratten, Mäuse, Ameisenvölker, Skorpione – je nach Standort, Zustand und Alter der Häuser begegnet man Nagetieren und Insekten in Indien in Appartements, Hotels und eben auch in Amtsstuben. Die Lästigen und Gefährlichen werden so gut es geht verfolgt und beseitigt, andere – wie beispielsweise die an den Wänden klebenden Geckos – als freundliche Mitbewohner akzeptiert. Einen alten Bahnhof in der indischen Provinz vollständig von einer Rattenplage zu befreien, wäre ein sehr ehrgeiziges Vorhaben. Mein Stationsvorsteher geht über Dinge, die nicht oder nur schwer zu ändern sind, mit Rücksicht auf alle Beteiligten lieber hinweg, damit niemand sein Gesicht verliert. Also: Kein Problem, solange man es nicht dazu macht.
    Da ich kaum klären kann, ob ich mit meiner Einschätzung richtig liege, ohne den Beamten vor den Kopf zu stoßen, lenke ich die Aufmerksamkeit noch einmal auf meine Weiterfahrt – und tatsächlich, etwas später finde ich mich auf dem höchst lebendigen Bahnsteig B wieder, begleitet von dem jüngeren Mitarbeiter, der mich bis zu der Tür des Wagens mit meiner Reservierung bringt. Etwa dreieinhalb Stunden später als auf meinem Ticket angekündigt – aber was soll's: No problem.
    India Rail ist eines der größten Unternehmen der Welt. Mehr als 14 Millionen Menschen fahren täglich in den Zügen des Unternehmens, ein Heer von 1,6 Millionen Angestellten und Beamten sorgt für den mehr oder weniger flüssigen Ablauf. Seinen Ursprung hat das indische Schienennetz in der Kolonialzeit – und bei manchen Fahrten kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich seit der Eröffnung damals nicht viel getan hat. Die Briten legten die Gleise nicht aus Menschenfreundlichkeit: Die Kolonialherren benötigten die Bahn als Mittel zur besseren Ausbeutung der Schätze der Kronkolonie – und zur Sicherung ihrer Herrschaft. Die Schienen wurden in Englands Stahlwerken hergestellt, die Lieferung ließen sich die Europäer von den Indern bezahlen. In den Zügen transportierten die Briten ihre Truppen, in den Städten bildeten die Bahndämme Verteidigungslinien zwischen den von Indern bewohnten Altstädten und den Siedlungen der Europäer, den Cantonment Areas. Die indische Bevölkerung nutzte die Bahn als Beförderungsmittel bei Pilgerreisen – und lernte dabei das eigene Land erst zu Zehn-, dann zu Hunderttausenden besser kennen, als es vorher je möglich gewesen war. Als das englische Königreich Indien 1947 in die Unabhängigkeit entließ, wurde die Bahn Teil des Staatsbesitzes der neuen Republik. Auch heute ist sie das wichtigste Beförderungsmittel Indiens. Weder die Straße noch das Flugzeug können die indischen Großfamilien auf ihren Pilgerfahrten und Verwandtenbesuchen so günstig transportieren. Damit wird jede
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