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Masala Highway

Titel: Masala Highway
Autoren: Gabriel A Neumann
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darauf enthalten sein, dass ich gerade ein Paradebeispiel für ein indisches Klischee vom westlichen Besucher liefere: der hektische Weiße, der sich unangemessen heftig wegen Nichts aufregt. Aber welche Art von „Kein Problem“ ist hier gemeint? Zu oft habe ich mich schon darauf verlassen, dass es sich um die letzte Variante handelt. Ich stelle mich ans Ende der Schlange – vielleicht gibt es ja unter dem Schild mit der Aufschrift „Ticket“ einen Abfahrtsplan.
    Der Fahrkartenverkäufer sitzt hinter einer Theke, die ihm bis etwas über die Höhe seiner Stirn reicht und die von einer Glasscheibe mit einer kleinen Durchreiche gekrönt wird. Hinter seinem Verteidigungswall betrachtet er mein Ticket, spielt nachdenklich mit dem Papier zwischen seinen Fingern und meint schließlich auch: „Platform B, Platform B“.
    Zwei Stunden und einige Rückfragen bei anderen Wartenden später ist noch kein Zug auf Bahnsteig B aufgetaucht. Ich bin nervös, rechne aus, wie lange der Zug nach Nagpur braucht und wann es dunkel wird, denn nach Sonnenuntergang ist es komplizierter, eine gute Unterkunft zu finden. Ob ich wohl meine Fahrkarte ersetzt bekomme, wenn der Zug doch auf einem anderen Bahnsteig abfährt, während ich hier herumstehe? Noch einmal schleppe ich mich und meinen Rucksack hinüber zum Hauptgebäude. Alles verrammelt, Mittagspause. Nein, der Fahrkartenschalter ist geöffnet. Noch einmal versuche ich mein Glück bei dem Haarschopf hinter der Theke. „Train to Nagpur?“, versuche ich es wieder, lege mein Ticket in die Hand, die sich mir entgegenstreckt. „Please come“, sagt der Mann und zeigt zu einer Tür an der Seite.
    Als die Tür sich öffnet, steht mir ein älterer Herr mit dicklicher Figur und weißen Haaren im gebügelten Hemd und Anzughose gegenüber. Es ist offensichtlich, dass er hier der Chef ist: Seine Körperfülle und drei protzige Goldringe an den Händen sind deutliche Hinweise. Er führt mich in sein Büro, nachdem ich meinen Rucksack in eine Ecke hinter der Tür gestellt habe. „Where do you come from?“, fragt er mich noch auf dem Gang, und ob ich Tee wolle? Während ein deutlich dünnerer und jüngerer Mitarbeiter sich auf den Weg macht, um Getränke zu holen, führt der Stationsvorsteher freundlichen Smalltalk. Ob ich verheiratet sei, wie lange ich in Indien bliebe, wie mir Maharashtra gefalle, wo ich denn Hindi gelernt habe, ach, ich wolle nach Nagpur? Er freut sich über meine Antworten, ich freue mich über sein Interesse, aber ob er weiß, dass mein Zug eigentlich vor einer Dreiviertelstunde von seinem Bahnhof hätte abfahren sollen?
    „No problem“, versichert mir der Herr lächelnd und verbindlich, und da kommt auch schon der Tee. Der Teereinbringer wird mit herrischem Tonfall gleich wieder los geschickt, diesmal zu einem Kollegen. Der soll herausfinden, was mit dem Zug nach Nagpur sei, höre ich heraus – mein Gegenüber will beweisen, dass es an seinem Bahnhof effizient und kundenfreundlich zugeht. „This is India“, wendet er sich dann wieder mir zu, die Züge kämen hier eben nach ihrem eigenen Fahrplan an: „Our trains have their own schedule“. Nur zu Zeiten Indira Gandhis sei das anders gewesen …
    Die Geschichte von den pünktlich verkehrenden Bussen und Bahnen unter Premierministerin Indira Gandhi, die in den Siebzigerjahren und noch einmal Anfang der Achtzigerjahre Indien regierte, hört man immer wieder. Oft schwingt die Sehnsucht nach früheren Zeiten, die ja bekanntlich immer die besseren sind, in diesen Erzählungen mit. Die wichtigere Botschaft ist aber ein „Wir können auch anders!“. Bei mir löst die Mär von den minutengenau eintreffenden und abfahrenden Zügen Gänsehaut aus. Denn die Geschichte fällt in eine Zeit, in der die Staatschefin die indische Demokratie in ihr Gegenteil verkehrte. Mit einem Notstandsgesetz drückte Indira Gandhi rigoros ihre Ziele durch – und erhielt sich und ihrer Partei die Macht. Andere Maßnahmen der Premierministerin aus den Jahren 1975 bis 1977, über die heute weniger gesprochen wird, sind die Massenverhaftungen von Oppositionellen und die Zwangssterilisierungen, um das Bevölkerungswachstum einzudämmen. Ich weiß nicht, ob die Story von den verlässlich fahrenden Zügen wahr ist oder nicht – Statistiken über die Leistungen von Staatsbetrieben, die während diktaturähnlichen Zeiten entstehen, sind nicht besonders vertrauenswürdig. Aber es fällt auf, dass es eine Legende um Pünktlichkeit ist, die das
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