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Totenkult

Totenkult

Titel: Totenkult
Autoren: Ines Eberl
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PROLOG
    Peru, 1913
    Langsam löst sich das Gesicht vom Schädelknochen. Die Stirnhaut klappt nach vorn, der Indianer kehrt das blutige Innere nach außen und stülpt es über Mund und Nase wie einen Handschuh. Mit muskulösen Fingern, so braun wie die tote Haut nach mehrstündigem Räuchern sein wird, packt er den dicken schwarzen Schopf und hält den knochenlosen Kopf in die Höhe.
    Thibeault de Mortin mustert das einstige Gesicht in der Hand des Indianers. Noch vor Kurzem hat es einem jungen Krieger gehört, nun ist es, seiner menschlichen Würde beraubt, zum Gegenstand herabgesunken. Schwarze Löcher gähnen an den Stellen, an denen sich die Augen befunden haben, und der Mund klafft in einem stummen Schrei. Jetzt muss die Hauthülle mitsamt dem Skalp gekocht und anschließend mit heißen Steinen, Sand und Asche gefüllt werden, um die Mumifizierung in Gang zu setzen. Erst dann können die Gesichtszüge nachgestaltet werden. Mehrere Stunden im Rauch werden für die dunkle Gesichtsfarbe und die nötige Konservierung sorgen.
    Mortin hat auf seinen Expeditionen eine ganze Sammlung von Tsantsas, Schrumpfköpfen, erworben, doch noch nie hat er das faszinierende Ritual der Herstellung mit eigenen Augen gesehen. Obwohl er nicht zu Sentimentalitäten neigt, fühlt er doch so etwas wie Ergriffenheit.
    Er lässt seinen Blick von der Totenhaut zu dem Aguaruna-Indianer hinabwandern, der auf dem festgestampften Lehmboden hockt und zu ihm hochsieht.
    »Bravo, mon ami .« Mortin nickt lächelnd, um sein Wohlgefallen auszudrücken. Er ist fast sicher, dass der Wilde ihn versteht. Aber er will nicht zu entgegenkommend erscheinen, um den vereinbarten Preis für das einmalige Erlebnis und die Trophäe nicht in die Höhe zu schrauben.
    Die schwarzen Augen des Indianers glimmen wie Holzkohle im Schein des Herdfeuers, über dem bereits der Kessel mit kochendem Wasser hängt. Heißer Dampf zieht in feuchten Schwaden durch das Halbdunkel der Hütte, und ein scharfer Geruch, der Mortin an die Gerbereien in den Pariser Hinterhöfen erinnert, liegt in der Luft.
    Mortin nimmt den Panamahut ab und lässt den gewebten Poncho von seinen Schultern gleiten, der ihn gegen die Kälte des peruanischen Hochlandes schützt. Das grobe Baumwollhemd scheuert auf seiner empfindlichen Haut, und der Bund der Reithose kneift. Noch nie ist ein Forscher Augenzeuge des Tsantsa-Rituals geworden. Sein Angebot, für einen Schrumpfkopf das Doppelte zu zahlen, wenn er seiner Herstellung beiwohnen kann, war verdächtig schnell angenommen worden. Am Beginn des 20.   Jahrhunderts scheint der Fluch des Kapitalismus auch die Ureinwohner Südamerikas erfasst zu haben. Wie lange würden die Aguaruna überhaupt noch an den alten Sitten ihrer Väter festhalten?
    Thibeault de Mortin unterdrückt einen Seufzer. Er kann es kaum erwarten, nach Paris zurückzukehren und seinen Bericht der Akademie vorzulegen. Im Kessel zerplatzen die Luftblasen. Draußen wiehert sein Pferd.
    Der Indianer steht auf und geht, den Skalp in der Hand, zum Feuer hinüber. Er schiebt ein weiteres Holzscheit unter den Kessel. Dann wirft er das Gesicht hinein und taucht es mit einem Stock immer wieder in das wallende Wasser.
    Mortin fasst sich in Geduld. Um den Wilden bei seiner Arbeit nicht zu stören, wandert er in der Hütte umher. Eine Weile sind nur das Knarren seiner Lederstiefel, das leise Klirren seiner Sporen und das Brodeln des Wassers zu hören. Mortin hat den Eindruck, als würde die Hütte nicht zu Wohnzwecken, sondern nur zur Jagd genutzt. An der hinteren Wand reihen sich Tonkrüge und ein Stapel Tierhäute. Daneben lehnen zwei unfertige Speere. Ein paar bunt gewebte Decken und ein verfilztes Lamafell scheinen als Schlafstatt zu dienen. Auf dem harten Bett liegen eine Umhängetasche und ein geflochtener Lederköcher, aus dem die Schäfte von drei Pfeilen ragen.
    Mortin geht zu den Decken hinüber und nimmt den Köcher näher in Augenschein. Zwischen den Pfeilen steckt ein kleiner, flaschenförmiger Kürbis. Mortin kann einen leisen Pfiff nicht unterdrücken. Von so einer Calabaza hat er schon gehört. Und er weiß auch, was sie enthält. Unwillkürlich steckt er die Hände in die Taschen seiner Reithose, als könne er sich so vor der Berührung mit dem Gift schützen. Kalebassen-Curare. Schon die Konquistadoren beschrieben die tödlichen Giftpfeile der südamerikanischen Einwohner. Gewonnen aus allen Arten der Brechnuss, je nach Rezept und Volksgruppe, lähmt das Gift innerhalb kurzer Zeit
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