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Masala Highway

Titel: Masala Highway
Autoren: Gabriel A Neumann
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so allein schon mit Choreographie, zweieinhalb bis drei Stunden dauert ein Bollywood-Film insgesamt. Wenn zum ersten Mal im Saal das Licht angeht, ist der erste Teil geschafft: Die Charaktere sind eingeführt. Zeit, sich mit Chips – sehr häufig nicht aus industrieller Produktion, sondern in Handarbeit hergestellt – und Limonade zu versorgen. Bier gibt es meist keins, da dafür eine besondere Lizenz notwendig ist, und sein Konsum in der Öffentlichkeit auch nicht mit der indischen Vorstellung eines familiengeeigneten Kinos vereinbar ist. Hat der Film Über-Überlänge, dauert also mehr als 200 Minuten, gibt es auch zwei solcher Pausen. Doch normalerweise ist es die erste, die im Aufbau des Films den Bruch zwischen Exposition und dramatischer Entwicklung kennzeichnet.
    Die Handlung lässt sich normalerweise schnell zusammenfassen: Armes Mädchen – gerne eine Waise – trifft auf bescheidenen Sohn eines reichen Mannes, Typ Schwiegermutterliebling. Sie schwören sich ewige Liebe, werden aber vom Schicksal getrennt. Später gerät sie in die Fänge eines besonders reichen, besonders bösen Schurken (der etwas mit dem Tod der Eltern des Mädchens zu tun hat), wird aber, als schon alles verloren scheint, von ihrem Jugendfreund gerettet. Zur Belohnung stellt sich schließlich heraus, dass das Mädchen Anspruch auf ein großes Erbe hat, das der Schurke unterschlug, und am Schluss feiern alle Guten gemeinsam den Sieg.
    Ihren Reiz erhalten die Geschichten durch ein paar Anpassungen und Verwicklungen, vor allem durch den ständigen Wechsel der Erzählgenres. Bollywood ist Drama, Tragödie, Action, Romanze und Komödie in einem. Die Figur eines angesehenen Familienoberhaupts, das mit tiefem Timbre in gewählter Sprache spricht, tritt zugleich mit der Figur eines Spaßvogels und Narren auf, die sich durch piepsende Sprechweise und ein paar Slapstickeinlagen auszeichnet. Manche Schauspieler entwickeln Running Gags, die sie über Filme und Rollen hinweg immer wieder bringen – wie beispielsweise der Sänger und Schauspieler Kishore Kumar in den sechziger und siebziger Jahren, der immer wieder Jodeleinlagen in seine Songs einbaute.
    Als Vorbilder dieser Erzählweise dienten vermutlich die großen hinduistischen Epen. Auch in der Mahabharata wechseln Glück und Unglück, Kampf und Göttlichkeit ohne Punkt und Komma, und ihre Erzählung wird auf der Bühne mit Tanzeinlagen garniert. Verfilmungen der Veden gibt es schon seit der Stummfilmzeit.
    Eine einfache Erklärung bietet die Wirkung der Filme auf das Publikum: Die Menschen lassen sich verzaubern, sind begeistert vom Wiedersehen mit ihren Stars, träumen sich in die Welten, die sich plötzlich ihren Augen und Ohren darbieten. Das wirkliche Leben will jemand wie der Rikschafahrer, der sich als Filmspezialist entpuppte, im Kino nicht sehen – seine Pedale und die Straße sind ihm real genug. Je größer die Achterbahnfahrt der Gefühle, je ungewöhnlicher die Figuren und je spektakulärer die Filmsets, desto besser.
    Hollywood oder gar die Filme europäischer Studios wirken auf die Mehrheit der indischen Kinogänger so spannend wie westliches Essen: Man probiert es vielleicht einmal, wechselt dann aber doch lieber zum bewährten Masala. Ausnahmen gibt's natürlich auch, wie Sita, die ich in Maharashtra kennenlernte und die bekennender Fan von Johnny Depp ist. „Lass uns doch in ,Don Juan DeMarco’ gehen“, bat sie mich. Eigentlich hätte ich mehr Lust auf einen Bollywood-Streifen gehabt. „Warum denn ausgerechnet mit mir?“, maulte ich. „Gerade mit Dir – meine anderen Freunde finden, dass da zu wenig getanzt wird oder es zu wenig Action gibt. Oder beides.“ Vielen fehlt in den Filmhandlungen des Westens die Würze.
    Am spektakulärsten sind die vielen Szenen vor Schweizer Alpenpanoramen. Spätestens seit dem Film „Dilwale Dulhania Le Jayenge“ (Wer zuerst kommt, kriegt die Braut), einem der ersten großen Erfolge Shah Rukh Khans aus dem Jahr 1995, ist die Schweiz, vor allem das Berner Oberland, ein beliebter Drehort. Wenn einmal ein Sparkassenschild oder ein eidgenössisches Polizeiauto ins Bild gerät, macht das gar nichts – das wirkt auf die Zuschauer umso exotischer. Die Schweizer unterstützen die weit gereisten Filmemacher sogar, denn ein Kassenschlager ist besser als jede Fremdenverkehrswerbung. Längst reisen filmbegeisterte Inder als Touristen an die Schauplätze ihrer Traumwelten. Allerdings beschränken sich die Produzenten nicht auf die Schweiz:
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