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Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Autoren: Johanna Rosen
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Oregon 1991
    D as Leben war wunderschön. So wie es sein sollte. Flimmernd fielen die Sonnenstrahlen des Frühsommerabends durch die Blätter der Eichen, als er die Enge der kleinen Stadt hinter sich ließ. Den Alltag abschüttelte. Dafür hatte er ein bestimmtes Ritual entwickelt. Laufen, tief atmen, den Krawattenknoten lockern – im vergangenen Jahr hatte er geheiratet, an einem verregneten Septembertag, jetzt war Juni, strahlender Juni –, weiterlaufen, immer weiter, der Tag verdämmerte in rotgoldenem Abendlicht, Zeit zum Träumen, zum gefühlten Davonfliegen, die Krawatte schließlich ganz abschütteln und lose um den Hals hängen, dann die Schuhe, unbedingt auch die Schuhe, als Nächstes die Socken, teure Burlington-Socken zumeist, Schuhe und Socken sorgfältig ins immer gleiche Gestrüpp schieben, mit den Armen schwingen und noch tiefer atmen, während die befreiten Füße Waldboden spüren durften, und dann abtauchen in eine andere Welt.
    Die Stämme der Kiefern leuchteten im letzten Sonnenlicht, die Schatten wurden länger.
    Atmen und träumen und frei sein.
    Zu Hause wartete seine junge Ehefrau auf ihn, aber daran wollte er jetzt nicht denken. Auf keinen Fall jetzt. Nicht in seiner Davonfliegzeit. Dabei mochte er seine Frau. Sie sah hübsch aus und er hatte ihre Stimme gern. Und die Art, wie sie manchmal lachte. Auch morgens, wenn sie noch schlief, hatte er sie gern. Dann war sie weich und warm und es rührte ihn, wie sie so vertrauensvoll neben ihm lag, mit geschlossenen Augenlidern, in denen ganz zart ein paar hauchdünne Adern zu erkennen waren, wenn man genau hinsah. Und er sah genau hin.
    Aber tagsüber mochte er sie nicht ganz so gern. Sie konnte laut werden, hektisch gestikulieren, wenn sie sich ärgerte, und sie las drei Tageszeitungen, die sie alle abonniert hatte, und wenn sie sie umblätterte, tat sie es laut und irgendwie herrisch. Außerdem sah sie gerne Liebesfilme am Abend und statt Wein, wie er es vielleicht erwartet hätte, trank sie lieber ein Bier dazu. Und ihre Finger, die waren das größte Problem für ihn, wenn er es sich eingestand, ihre Finger waren fest und beinahe etwas knotig und passten gar nicht zum Rest ihrer Erscheinung.
    Warum hatte er sie geheiratet? Und warum sie ihn?
    Nein, nein, nicht weiterdenken.
    Das Leben spielte eben, wie es wollte. Es narrte einen und bot manchmal keinen Ausweg. Das war das Dilemma.
    Nur hier draußen, hier war es anders. Die Stadt lag irgendwo hinter seinem Rücken, der sich jetzt herrlich entspannte. Er war weit weg. Aufseufzend schlenderte er durch das Kiefernwäldchen und fühlte sich wie befreit.
    Der Boden war rostrot und bestand nur aus herabgefallenen Nadeln. Jeder Schritt, den man machte, federte lautlos nach und man ging wie verzaubert.
    Zuerst war es gut gewesen nach seiner Hochzeit.
    Aber dann…
    Dann war sie gekommen. War in sein Leben gestolpert, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Haare waren aschblond, nicht gefärbt blond wie die Haare seiner Frau, und eigentlich hätte sie ihm gar nicht unbedingt auffallen müssen. Zuerst. Aber weil sie immer wieder kam, fiel sie ihm doch auf. Sie hatte eigentümliche Augen. Das war im Grunde das Erste, was er wirklich an ihr wahrnahm. Diese hellgrauen, geisterhaft blassen Augen. Und nach und nach nahm er mehr wahr: ihre feingliedrigen, schmalen Finger, ihre langen Beine, die so zart aussahen. Zart und fast zerbrechlich. Sie hatte eine vollkommene Figur. Seit er sie ansah und ansah und ansah, glaubte er fast wieder an die Schöpfung.
    Sie liebte dieses Waldstück genau wie er. Und manchmal, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel über den kleinen, klaren See fiel, verwandelte sich die Farbe ihrer grauen Augen in ein fast schmerzliches Blautürkis.
    Sie war Anmut. Schönheit. Sehnsucht. Und sie kam oft her. Das hatte er nach und nach herausgefunden, als er angefangen hatte, ihr behutsam zu folgen.
    Seine Frau verblasste neben ihr.
    Er mochte die Art, wie sie durch das hohe Gras lief, ohne ihn zu sehen, wie sie das Leben liebte, wie sie von Energie durchströmt zu sein schien.
    Nichts war mehr wie früher seitdem.
    Nichts.
    Wenn er an sie dachte, hätte er weinen können. Und er musste praktisch immerzu an sie denken. Beim Aufwachen wie beim Einschlafen. Beim Arbeiten, beim Essen, beim Autofahren.
    Er liebte ihren weichen Gang, ihre Unbekümmertheit und die Kraft, die sie ausstrahlte.
    »Was ist bloß los mit dir?«, fragte seine Frau immer mal wieder und riss ihn aus seinen Tagträumen. »Du
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