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Masala Highway

Titel: Masala Highway
Autoren: Gabriel A Neumann
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ignorieren. Ablenkung ist ausreichend vorhanden: Bereits vor der Werbung und den Trailern gibt es großes Kino. In der Hauptrolle: die Sitznachbarn. „Familienfilm“ nehmen Inder wörtlich, Gruppen von zehn Leuten sind üblich. Leider lässt sich der familieninterne Schlüssel der Sitzverteilung, über Generationen entwickelt, meist nicht ohne Weiteres mit den Gegebenheiten im Saal in Einklang bringen: Der ältere Sohn will zugucken und braucht deswegen auch vor sich einen freien Platz, muss aber zum Aufpassen in der Nähe der Schwestern bleiben, die unbedingt die Großmutter und die Schwiegertochter in ihrer Mitte haben wollen, die wiederum untereinander das kleine Baby hin- und herreichen, damit es nicht so weint. Vater ist auch da, kann sich aber um die Gruppierung seiner Lieben nicht kümmern, weil er dringend telefonieren muss.
    Den Beginn des Films signalisiert die Einblendung eines Formulars in lateinischer und Devanagri- Schrift. Das Blatt ist ein kleiner Gruß der indischen Bürokratie, das Formblatt der indischen Zensurbehörde. Filme dürfen nur mit staatlicher Genehmigung gezeigt werden. Allerdings kommen die Studios dem Zensor meist zuvor, wenn es darum geht, anstößige oder politisch diskussionswürdige Szenen herauszuschneiden, denn mit den kommerziellen Filmen wollen die Produzenten nicht anecken – sie wollen, dass die Menschen eine Karte, nein: sieben Karten für sie kaufen.
    Manchmal muss aber doch nachgeschnitten werden. Der Historienschinken „Jodhaa Akbar“ mit Hrithik Roshan in der Hauptrolle als junger Mogulkaiser erregte 2008 in Nordindien die Gemüter. Die Nachfahren der Rajputen sahen das Bild ihrer Ahnen von dem Film falsch wiedergegeben, die historisch doch recht blutrünstigen Züge Akbars dagegen verharmlost. Einige Kinos wurden verwüstet und auf Straßen demonstrierten nationalistische Cineasten – oder kinokritische Nationalisten. In vier Bundesstaaten wurde die Aufführung daraufhin verboten – und außer in Rajasthan, wo die Wellen der Empörung am höchsten schlugen, wenige Tage später wieder erlaubt, nachdem der Verleih einige Minuten besonders umstrittenen Materials entfernt hatte. Die Einwände einiger Kommentatoren, dass der Film vor und nach dieser Selbstzensur ein Bollywood-Spektakel ohne den geringsten Anspruch auf historische Authentizität sei, und die Geschwindigkeit des Aufführungsverbots und seine Aufhebung die Züge eines abgekarteten PR-Manövers trugen, verhallten ungehört. Jedenfalls brachte die Indizierung in Rajasthan dem Film in ganz Indien viel Mundpropaganda ein – und ein hervorragendes Einspielergebnis.
    Meist bleibt die Zensur aber eine Formalie. Dann geht auf der Leinwand das große Spektakel los – und die Zuschauer folgen diesem, je nachdem welche Phase die Story durchläuft, mehr oder weniger begeistert. Weniger konzentriert wirkt das Publikum, wenn es um die Entwicklung der Handlung und der Charaktere geht, also in den eineinhalb Stunden vor der Pause. Man unterhält sich, holt sich etwas zu trinken oder nutzt die Gelegenheit, um einen Freund anzuklingeln, um diesem lautstark – sonst versteht der Angerufene ja bei dem Krach nichts – mitzuteilen, was man gerade so macht: „Are Bai! Ja, der Film fängt gerade an.“ Die Aufmerksamkeit gehört dagegen ganz dem Film, wenn die Darsteller plötzlich tanzen und singen, etwa vor einer Berglandschaft, in einem Schlosspark oder auf einem futuristischen Hochhaus. Ist der Film neu, wird im Mittelgang des Saals und vor der Leinwand mitgetanzt – und ist er schon älter, kann man davon ausgehen, dass jeder den Text der Lieder kennt.
    Der Aufbau eines Bollywood-Streifens ist keine neue Erfindung, sie geht zurück auf die Anfänge des indischen Kinos. In dem ersten indischen Tonfilm, „Alam Ara“ von 1931 (Das Licht der Welt), wurde die Handlung durch sieben Tanz- und Gesangseinlagen unterbrochen – ein Muster, dem die meisten kommerziellen Filme bis heute folgen. Diese „Picturizations“ genannten Sequenzen durchbrechen die klassische Einheit von Zeit und Ort der Handlung – und auch die Authentizität der Figuren spielt keine große Rolle: Niemanden im Kinosaal interessiert es, woher plötzlich die Musik kommt, oder warum gerade eben noch würdige, autoritär dargestellte Charaktere nun plötzlich über eine Almwiese hopsen.
    Die vielen Unterbrechungen mit Tanzeinlagen tragen zu der Überlänge von Hindi-Filmen bei. Ein Musikstück dauert etwa sieben bis zehn Minuten – eine Stunde vergeht
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