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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst
Autoren: Anna Salter
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kapitel 1
    Meine Mutter gab mir den Namen Breeze, Brise. Hochschwanger hatte sie an einem heißen Augusttag in Arizona auf meine Ankunft gewartet, als aus dem Nichts eine stetige Brise aufzog, die den ganzen Tag und die Nacht über anhielt. Meine Mutter sagte, die Brise habe mich mit sich gebracht und dann zurückgelassen, als sie weiterzog.
    Heute lag Arizona weit hinter mir. Schon in meinem zweiten Lebensjahr hatten Arizona und meine Mutter weit hinter mir gelegen. Heute saß ich in einem Washingtoner Staatsgefängnis und wartete darauf, einen Sexualstraftäter zu befragen, etwas, das sich meine süße Hippie-Mama für mich niemals hätte vorstellen können. Ich bin Gerichtspsychologin, und unter anderem muss ich Sexualstraftäter im Hinblick auf eine mögliche Sicherungsverwahrung beurteilen, was mich in diesem Fall ins Judas Island Correctional Center in Posedan, Washington, geführt hat.
    Seltsamerweise befand sich das Judas Island Correctional Center auf dem Festland, gleich südlich von Seattle - keine Insel weit und breit. Der Befragungsraum war ein kleiner, fensterloser Würfel, ausgestattet mit der üblichen Gefängniseinrichtung: festgeschraubte Metallmöbel
und PVC-Boden. Ich hörte Schritte und sah auf, als Daryl Collins den Raum betrat.
    Er war vierzig, mit beginnender Glatze und ein paar dünnen Haarsträhnen, die er sorgfältig in die Stirn gekämmt hatte. Sein Mund war ein breiter Strich; die Augen waren tiefliegend und haselnussbraun, mit einem harten Ausdruck, den er nicht ganz verbergen konnte. Collins war ein großer Mann mit hängenden Schultern, der im Gegensatz zu den meisten anderen Häftlingen nicht so aussah, als halte er sich mit Hantel- oder Gerätetraining fit. Dennoch war sein Gesicht faltenlos und ließ ihn jünger wirken, als er tatsächlich war. Gefängnisinsassen scheinen nicht zu altern; die Zeit scheint für sie einfach stehen zu bleiben.
    Der Beamte, der Collins begleitete, positionierte sich direkt neben der Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. Collins, der an Hand- und Fußgelenken gefesselt war, kam durch den Raum auf mich zu.
    »Bitte nehmen Sie Platz, Mr Collins. Ich bin Dr. Copen«, sagte ich. »Man hat mir gesagt, dass Sie einverstanden sind, mit mir zu sprechen.«
    »Natürlich werde ich mit Ihnen sprechen«, erwiderte Collins und setzte sich auf einen Stuhl. »Ich habe nichts zu verbergen. Jetzt nicht mehr. Ich habe das alles vor langer Zeit hinter mir gelassen.« Sobald er sprach, bekam ich ein besseres Gespür für ihn, aber das hatte nichts mit seinen Worten zu tun. Ich bin Synästhetikerin, und meine Neuronen sind ein wenig falsch vernetzt, falls man es so ausdrücken will. Wenn ich Stimmen oder Musik oder bestimmte Tierlaute höre, dann nehme ich nicht nur die
Geräusche wahr, sondern ich sehe außerdem Farben und Muster. Besonders gern mag ich Möwen, denn ihre Stimmen sind eine Art weich geschwungenes Rot. Ich muss noch nicht einmal die Augen schließen, um die Farben zu sehen - sie sind direkt vor mir, mit Formen und Texturen, für die ich keine Worte habe. Und die Farben gehen manchmal mit etwas einher, das ebenfalls schwer zu beschreiben ist - mit allen möglichen Empfindungen in meinen Handflächen.
    Es ist nicht so, als ob mit mir etwas nicht stimmen würde. Die Wissenschaft sagt, dass Synästhesie normal sei, wenn auch ziemlich selten - so selten, dass die Chance, sie zu haben, bei eins zu fünfundzwanzigtausend liegt. Meine Neuronen sind einfach, na ja, überkreuzt. Für mich ist das keine große Sache - ich kenne es nicht anders -, trotzdem gehe ich nicht damit hausieren. Die Menschen können mit Abweichungen von der Norm nicht gut umgehen.
    Für meine Ohren klang Collins’ Stimme weich, gelassen und zurückhaltend, doch sie sah ganz anders aus. Es war eine messingartige Farbe mit einer olivgrünen Note. Sie hatte Kanten, aber ich konnte weder die Form, die sie bildeten, benennen noch die Empfindung in meinen Handflächen identifizieren, allerdings wusste ich, dass sie nicht angenehm war.
    »Danke, dass Sie eingewilligt haben, sich mit mir zu treffen«, begann ich mit meiner Einführungsrede. »Ich bin Psychologin und vom Staat Washington damit beauftragt, ein Gutachten über Sie zu erstellen. Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, ob Sie die Kriterien erfüllen, die der Gesetzgeber für einen Sexualstraftäter mit
Rückfallrisiko festgelegt hat. Falls Sie es tun, kann nach Verbüßung Ihrer Freiheitsstrafe Sicherungsverwahrung
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