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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary
Autoren: Woelffe
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aber trotzdem können
sie nicht anders, als die Ereignisse noch einmal durchzugehen und über die
Bilder zu sprechen, die sie im Kopf haben: der Kronanwalt, der eine letzte
Notiz in der Anklageschrift macht; More, der kichert, als einem Schreiber ein
Fehler bei seinem Latein unterläuft; die kalten, glatten Gesichter der
Boleyns, Vater und Sohn, auf der Richterbank. More hat nie die Stimme erhoben;
er saß auf dem Stuhl, den Audley ihm zur Verfügung gestellt hatte; aufmerksam,
den Kopf ein wenig nach links geneigt, zupfte er beständig an seinem Ärmel.
    Deshalb war Riehe sichtlich
überrascht, als More plötzlich auf ihn losging; er war einen Schritt
zurückgewichen und hatte sich Halt suchend an einen Tisch gelehnt. »Ich kenne
Sie von früher, Riehe, warum sollte ich Ihnen meine Gedanken offenbaren?« More
war aufgestanden, seine Stimme triefte vor Verachtung. »Ich kenne Sie seit Ihrer
Jugend, Sie waren ein Zocker und Würfelspieler, berüchtigt sogar in Ihrem eigenen
Haus...«
    »Beim heiligen Julian!«, hatte
Richter Fitzjames ausgerufen; das war sein üblicher Fluch. Und leise zu ihm,
Cromwell: »Wird ihm das nützen?«
    Der Jury hatte es nicht
gefallen: Man weiß nie, was einer Jury gefällt. Sie hielten Mores plötzliche
Lebhaftigkeit für Erschütterung und Schuld, weil man ihn mit seinen eigenen
Worten konfrontiert hatte. Gewiss kannten sie alle Riehes Reputation. Aber sind
Trinken, Würfeln und Prügeleien im Großen und Ganzen nicht natürlicher für
einen jungen Mann als Fasten, Rosenkranzbeten und Selbstgeißelung? Es war
Norfolk, der in trockenem Ton in Mores Tirade eingefallen war: »Lassen Sie mal
den Charakter des Mannes beiseite. Was sagen Sie zu der vorliegenden Frage?
Haben Sie diese Worte von sich gegeben?«
    War das der Moment, als Master
More einen Trick zu viel versuchte? Er hatte sich zusammengerissen und seine
rutschende Robe auf die Schulter gezogen; mit befestigter Robe hielt er inne,
beruhigte sich, legte eine Faust in die andere. »Ich habe nicht gesagt, was
Riehe behauptet. Oder wenn ich es gesagt habe, so habe ich es nicht in böser
Absicht gesagt, deshalb bin ich ohne Schuld nach dem Gesetz.«
    Er hatte gesehen, wie in
Parnells Gesicht ein spöttischer Ausdruck aufblitzte. Nichts ist so
unerbittlich wie ein Londoner Bürger, der glaubt, man hält ihn zum Narren.
Audley oder jeder andere der Juristen hätte die Jury eines Besseren belehren
können: Das ist nur die übliche Art und Weise, auf die wir Juristen
debattieren. Aber sie wollen keine juristische Debatte, sie wollen die
Wahrheit: Haben Sie das gesagt, oder haben Sie das nicht gesagt? George Boleyn
beugt sich vor: Kann der Gefangene uns seine eigene Version des Gesprächs
geben?
    More dreht sich um, er
lächelt, als wolle er sagen: Ein guter Punkt, junger Master George. »Ich habe
mir keine Notizen gemacht. Ich hatte keine Schreibmaterialien, müssen Sie
wissen. Denn wenn Sie sich erinnern, Mylord Rochford, der eigentliche Grund,
aus dem Riehe zu mir kam, war ja, mir alle Mittel zum Aufzeichnen wegzunehmen.«
    Und wieder hatte er auf die
Jury geblickt, als erwarte er Applaus; sie erwiderten seinen Blick, und ihre
Gesichter waren wie versteinert.
    War das der Wendepunkt? Sie
hätten More vielleicht geglaubt, war er doch einmal Lordkanzler gewesen, Purse
dagegen, wie jedermann weiß, ein solcher Verschwender. Man kann nie wissen, was
eine Jury denkt: obwohl er, als er sie einberief, natürlich überzeugend gewesen
war. An jenem Morgen hatte er mit ihnen gesprochen: Ich weiß nicht, wie seine
Verteidigung aussieht, aber ich hege keine allzu große Hoffnung, dass wir bis
Mittag fertig sind; ich hoffe, Sie hatten alle ein gutes Frühstück? Wenn Sie
sich zur Beratung zurückziehen, müssen Sie sich Zeit nehmen, natürlich, aber
wenn Sie nach meiner Berechnung mehr als zwanzig Minuten draußen sind, werde
ich hereinkommen, um festzustellen, wie Sie vorankommen. Um Ihnen alle Zweifel
bezüglich irgendwelcher rechtlichen Punkte zu nehmen.
    Sie brauchten nicht mehr als
fünfzehn Minuten.
    Jetzt, an diesem Abend im
Garten, am 6. Juli, dem Feiertag der heiligen Godelva (einer schuldlosen jungen
Frau aus Brügge, deren böser Ehemann sie in einem Teich ertränkte), sieht er in
den Himmel und spürt eine Veränderung der Luft, eine feuchte Strömung,
herbstgleich. Das Zwischenspiel der schwachen Sonne ist vorbei. Wolken formen
sich zu Türmen und Zinnen, sie werden aus Essex herangeweht und ballen sich
über der Stadt zusammen, sie werden
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