Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary
Autoren: Woelffe
Vom Netzwerk:
nimmt einen Schluck. »Sir, kann ich in Ihrem Gefolge mit zum
Prozess kommen?«
    »Es tut immer noch weh, habe
ich recht?« Dick Putser war der Junge, den More vor seinem Haushalt in Chelsea
auspeitschen ließ, weil er gesagt hatte, die Hostie sei ein Stück Brot. Damals
war er ein Kind, noch immer ist er fast ein Kind; als er damals nach Austin
Friars kam, hieß es, er weine im Schlaf. »Hol dir eine Livreejacke«, sagt er.
»Und vergiss nicht, dir am Morgen Hände und Gesicht zu waschen. Ich will nicht,
dass du mir Schande machst.«
    Es ist das Wort »Schande«, das
dem Jungen zu schaffen macht. »Der Schmerz hat mir kaum was ausgemacht«, sagt
er. »Außer von Ihnen, Sir, haben wir alle genauso viel, wenn nicht mehr von
unseren Vätern abgekriegt.«
    »Das stimmt«, sagt er. »Mein
Vater hat auf mich eingeschlagen, als wäre ich eine Metallplatte.«
    »Es war nur so, dass er mein
Fleisch entblößt hat. Und die Frauen haben zugeguckt. Dame Alice. Die jungen
Mädchen. Ich glaubte, eine von ihnen würde für mich eintreten, aber als sie
mich ohne Hosen sahen, haben sie sich nur geekelt. Es hat sie zum Lachen
gebracht. Als  der Kerl mich auspeitschte, haben sie gelacht.«
    In Geschichten sind es immer
junge Mädchen, unschuldige Mädchen, die dem Mann mit der Stange oder der Axt
in den Arm fallen. Aber wir scheinen in einer anderen Geschichte gelandet zu
sein: die kleinen Pobacken eines Kindes, die Gänsehaut von der Kälte bekommen,
seine mageren kleinen Eier, sein scheuer Schwanz, der auf Knopfgröße
zusammenschrumpft, während die Damen des Hauses kichern und die männlichen
Diener höhnen und dünne Striemen auf seiner Haut aufspringen und bluten.
    »Das ist jetzt vorbei und
vergessen. Weine nicht.« Er kommt hinter seinem Schreibtisch vor. Dick Purser
lässt den geschorenen Kopf an seine Schulter fallen und heult: vor Scham, vor
Erleichterung, aus Triumph, dass er seinen Peiniger bald überlebt haben wird.
More hat John Pursers Tod zu verantworten, er hat ihn verfolgt, weil er
deutsche Bücher besaß. Jetzt hält er den Jungen, fühlt das Schlagen seines
Pulses, seine angespannten Sehnen, die Stränge seiner Muskeln, und gibt
tröstende Laute von sich, wie er es bei seinen Kindern gemacht hat, als sie
klein waren, oder wie er es bei einem Spaniel macht, dem jemand auf den Schwanz
getreten hat. Trost, hat er festgestellt, wird oft um den Preis von einem oder
zwei Flöhen gespendet.
    »Ich folge Ihnen bis in den
Tod«, erklärt der Junge. Seine Arme umgreifen seinen Herrn mit zu Fäusten
geballten Händen: Knöchel bohren sich in seine Wirbelsäule. Der Junge schnieft.
»Ich glaube, in einer Livree werde ich gut aussehen. Um wie viel Uhr brechen
wir auf?«
     
    Früh. Mit seinem Stab ist er
vor allen anderen in Westminster Flail, um Schwierigkeiten in letzter Minute
abzuwenden. Das Gericht versammelt sich um ihn, und als More hereingebracht
wird, ist die Halle sichtlich erschüttert von seiner Erscheinung. Der Tower
war nie dafür bekannt, einem Mann gut zu tun, aber More erschreckt sie; mit
seiner mageren Gestalt und dem zottigen weißen Bart sieht er älter aus, als er
ist, wie siebzig. Audley flüstert: »Er sieht aus, als hätte man ihn schlecht
behandelt.«
    »Und dabei sagt er, dass ich keinen Trick auslasse.«
    »Nun, ich habe ein reines
Gewissen«, sagt der Lordkanzler munter. »Er hat jede Rücksicht erfahren.«
    John Parnell nickt ihm zu.
Richard Riehe, sowohl hoher Beamter des Gerichts als auch Zeuge, lächelt ihn
an. Audley bittet um eine Sitzgelegenheit für den Gefangenen, More setzt sich,
ruckelt aber an der Kante herum: aufgedreht, streitlustig.
    Er sieht sich um, um
sicherzustellen, dass jemand Notizen für ihn macht.
    Worte, Worte, nichts als
Worte.
    Er denkt: Ich habe mich an dich erinnert, Thomas More,
aber du hast dich nicht an mich erinnert. Du hast mich nicht einmal kommen
sehen.
     
    Nach Wolf Hall
    Juli 1535
     
    Am Abend vor Mores Tod klart
das Wetter auf, und er geht mit Rafe und Richard im Garten spazieren. Die Sonne
zeigt sich, ein Silberdunst zwischen Wolkenfetzen. Die vom Regen
flachgedrückten Kräuterbeete duften nicht, und ein unruhiger Wind zerrt an
ihren Kleidern, trifft ihren Nacken und dreht sich abrupt, um ihnen ins
Gesicht zu schlagen.
    Rafe sagt, es sei wie auf See.
Sie gehen rechts und links von ihm, dicht an seiner Seite, als drohe ihm Gefahr
von Walen, Piraten und Meerjungfrauen.
    Der Prozess liegt fünf Tage
zurück. In der Zwischenzeit ist viel Arbeit angefallen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher