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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary
Autoren: Woelffe
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vom Wind über die weiten durchweichten
Felder getrieben, über das durchnässte Weideland und die gestiegenen Flüsse,
über die tropfenden Wälder des Westens und hinaus über die See nach Irland.
Richard muss seinen Hut aus einem Lavendelbeet holen und klopft leise fluchend
die Tropfen ab. Ein paar Regentropfen treffen ihre Gesichter. »Zeit
hineinzugehen. Ich muss Briefe schreiben.«
    »Sie werden heute Nacht nicht
noch stundenlang arbeiten!«
    »Nein, Großvater Rafe. Ich
bekomme mein Brot und meine Milch, bete mein Ave Maria und ab ins Bett. Darf
ich meinen Hund mit nach oben nehmen?«
    »Auf keinen Fall, nein! Sonst
wird da oben noch stundenlang rumgetobt.«
    Es stimmt, dass er letzte
Nacht nicht viel geschlafen hat. Nach Mitternacht war ihm eingefallen, dass
More gewiss schon schlief, er wusste ja nicht, dass es seine letzte Nacht auf
Erden war. Es ist üblich, den zum Tode verurteilten Mann erst am frühen Morgen
vorzubereiten; wenn ich die Vigil für ihn halte, hatte er deshalb gedacht,
halte ich sie allein.
    Sie eilen ins Haus; der Wind
schlägt eine Tür hinter ihnen zu. Rafe nimmt seinen Arm. Er sagt: Mores
Schweigen war gar kein Schweigen, richtig? Es tönte laut von seinem Verrat; es
war spitzfindig, wenn Spitzfindigkeiten ihm nützlich erschienen, es war voller
Einwände und Kritteleien, voller schlauer Zweideutigkeiten. Es war die Furcht
vor offenen Worten oder die Annahme, dass offene Worte sich selbst verdrehen;
Mores Wörterbuch gegen unser Wörterbuch. Es gibt ein Schweigen, das voller
Worte ist. Eine Laute verwahrt in ihrer Höhlung die Noten, die sie gespielt
hat. Die Viola bewahrt in ihren Seiten eine Harmonie. Ein vertrocknetes
Blütenblatt kann seinen Duft behalten, ein Gebet kann vor Flüchen scheppern;
ein leeres Haus, dessen Besitzer ausgegangen sind, kann laut sein, wenn die
Geister lärmen.
     
    Jemand - wahrscheinlich nicht
Christophe - hat einen glänzenden Silbertopf mit Kornblumen auf seinen
Schreibtisch gestellt. Das dunkle Blau im Zentrum der geknitterten
Blütenblätter erinnert ihn an das Licht dieses Morgens: eine späte
Morgendämmerung für Juli, ein missmutiger Himmel. Um fünf oder früher wird der
Lieutenant of the Tower zu More hineingegangen sein.
    Von unten kann er einen ganzen
Strom von Boten hören, die in den Hof kommen. Es gibt viel zu tun, hinter dem
toten Mann muss aufgeräumt werden; aber schließlich, denkt er, habe ich es als
Kind schon getan, ich habe hinter Mortons jungen Herren hergeräumt, und dies
ist das letzte Mal, dass ich es tun muss; er sieht sich selbst als Kind, wie er
in der Dämmerung die Reste des kleinen Biers in einen Lederkrug schüttet, wie
er die Kerzenstummel aus den Haltern drückt und zum Einschmelzen ins
Kerzenlager bringt.
    Er kann Stimmen in der Halle
hören - einerlei: Er kehrt zu seinen Briefen zurück. Der Abt von Rewley
erbittet eine freie Stelle für seinen Freund. Der Bürgermeister von York
schreibt ihm über Wehre und Fischfallen; der Humber fließt sauber und süß,
liest er, und die Ouse auch. Ein Brief von Lord Lisle in Calais, der sich für
irgendetwas rechtfertigt und eine verworrene Geschichte erzählt: Er sagte,
dann sagte ich, also sagte er.
    Thomas More steht vor ihm,
solider im Tod, als er es im Leben war. Vielleicht wird er jetzt immer hier
sein: so geistig beweglich und so unnachgiebig, wie er in seiner letzten Stunde
vor dem Gericht auftrat. Audley war so glücklich über den Schuldspruch, dass er
mit der Urteilsverkündung begann, ohne den Gefangenen gefragt zu haben, ob er
noch etwas sagen wolle; Fitzroy musste hinübergreifen und ihm auf den Arm
klopfen, und More selbst stand auf, um Audley Einhalt zu gebieten. Er hatte
viel zu sagen, und seine Stimme war lebhaft, sein Ton beißend, seine Augen und
seine Gesten waren keineswegs die eines Mannes, der zum Tode verurteilt und
nach dem Gesetz bereits tot ist.
    Aber es war nichts Neues
dabei: jedenfalls nicht neu für ihn. Ich folge meinem Gewissen, sagte More, Sie
müssen dem Ihren folgen. Mein Gewissen überzeugt mich davon - und jetzt will
ich mich deutlich erklären -, dass Ihr Gesetz fehlerhaft ist (Norfolk brüllt
ihn an) und Ihre Autorität ohne Grundlage (Norfolk brüllt wieder: »Jetzt erkennen
wir deutlich Ihre böse Absicht!«). Parnell hatte gelacht, und die Geschworenen
hatten Blicke gewechselt und einander zugenickt; und während Westminster Hall
ganz und gar von Gemurmel erfüllt war, sprach More gegen den Lärm an und
brachte noch einmal seine
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