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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary
Autoren: Woelffe
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borstigen Ebern versehen. Es ist kein Wunder, dass
Gregory Northumbria mit den Westindischen Inseln verwechselt hat, denn diese
Karten sind in jeder praktischen Hinsicht unzureichend; sie sagen zum Beispiel
nicht, wo Norden ist. Es wäre nützlich zu wissen, wo die Brücken sind, und
einen Hinweis über ihre Entfernung voneinander zu bekommen. Es wäre nützlich zu
wissen, wie weit man vom Meer entfernt ist. Aber das Problem ist, dass es
immer die Karten des letzten Jahres sind. England erschafft sich beständig
neu, seine Klippen werden ausgewaschen, seine Sandbänke verlagern sich,
unvermutet sprudeln Quellen auf totem Boden. Sie gruppieren sich neu, während
wir schlafen, die Landschaften, durch die wir uns bewegen, und die Geschichten,
die hinter uns ihre Spur ziehen, tun dasselbe; die Gesichter der Toten
verschwimmen in anderen Gesichtern wie der Kamm einer Hügelkette im Nebel.
    Als  er ein kleines Kind war,
ungefähr sechs Jahre alt, hatte der Lehrling seines Vaters Nägel aus Schrott
gemacht: nur stinknormale Flachköpfe, hatte er gesagt, um Sargdeckel
zuzunageln. Die Schäfte der Nägel glühten im Feuer, ein lebhaftes Orange.
»Warum nageln wir die Toten zu?«
    Der Junge hatte nur einen
Moment innegehalten, während er die Nagelköpfe mit zwei sauberen Schlägen
zurechtklopfte. »Damit die grusligen Kerle nicht rauskommen und uns
verfolgen.«
    Jetzt weiß er es besser. Es
sind die Lebenden, die sich zurückwenden und die Toten verfolgen. Die
Röhrenknochen und Schädel werden aus den Leichentüchern gekippt, und als wären
es Steine, werden Wörter in ihre klappernden Münder geworfen: Wir redigieren
ihre Schriften, wir schreiben ihr Leben um. Thomas More hat das Gerücht
verbreitet, dass der kleine Bilney widerrief, als er auf dem Scheiterhaufen
angekettet war und das Feuer entzündet wurde. Es hatte ihm nicht gereicht, Bilney
das Leben zu nehmen, er musste ihm auch seinen Tod nehmen.
    Heute wurde Thomas More von
Humphrey Monmouth, der gerade seinen Dienst als Sheriff von London versieht,
zum Schafott geleitet. Monmouth ist ein zu guter Mensch, um über diese
Umkehrung des Schicksals zu jubeln. Aber vielleicht können wir für ihn jubeln?
    More steht am Richtblock, er
kann ihn jetzt sehen. Ein grober grauer Umhang ist um ihn gelegt, der seinem
Diener John Wood gehört, wie er sich erinnert. More spricht zu dem
Scharfrichter, macht offenbar eine witzige Bemerkung, wischt sich den
Nieselregen aus dem Gesicht und vom Bart. Er legt den Umhang ab, dessen Saum
vom Regen durchnässt ist. Er kniet am Richtblock, seine Lippen bewegen sich zu
seinem letzten Gebet.
    Wie alle anderen Zeugen hüllt
er sich fest in seinen Umhang und kniet nieder. Bei dem entsetzlichen Geräusch,
als die Axt auf das Fleisch trifft, wirft er einen Blick nach oben. Die Leiche scheint
von dem Schlag zurückgeschnellt zu sein und sich wie ein Stapel alter Kleider
gefaltet zu haben - in dem, wie er weiß, der Puls noch schlägt. Er macht das
Zeichen des Kreuzes. Die Vergangenheit bewegt sich heftig in seinem Inneren,
eine Verschiebung des Bodens.
    »Als o, der König«, sagt er.
»Von Gloucester begibt er sich nach Thornbury. Dann Nicholas Poynz' Haus in
Iron Acton: Weiß Poynz eigentlich, worauf er sich da einlässt? Von dort nach
Bromham ...«
    Gerade dieses Jahr hat ein
Gelehrter, ein Ausländer, eine Chronik Britanniens geschrieben, in der König
Arthur mit der Begründung ausgelassen wird, dass er nie existiert habe. Ein
guter Grund, wenn er ihn aufrechterhalten kann; aber Gregory sagt: Nein, er hat
unrecht. Denn wenn er recht hat, was ist dann mit Avalon?
    Er sieht auf. »Rafe, bist du glücklich?«
    »Mit Helen?« Rafe errötet. »Ja, Sir. Kein Mann war je
glücklicher.«
    »Ich wusste, dein Vater würde einlenken, nachdem er
sie gesehen hat.«
    »Es ist alles nur Ihnen zu verdanken, Sir.«
    Von Bromham - wir haben jetzt
Anfang September - in Richtung Winchester. Dann Bishop's Waltham, Alton, von
Alton nach Farnham. Er umreißt die Route, quer durchs Land. Das Ziel ist, den
König bis Anfang Oktober nach Windsor zurückzubringen. Er hat eine Karte auf
dem Blatt skizziert, England in einem Niesel aus Tinte; sein schnell aufnotierter
Terminplan steht am Rand. »Ich scheine vier, fünf Tage zur Verfügung zu haben.
Aha. Wer sagt denn, dass ich nie Urlaub bekomme?«
    Vor »Bromham« macht er einen
Punkt am Rand und zieht einen langen Pfeil quer über die Seite. »Hier, bevor
wir nach Winchester gehen, haben wir Zeit übrig, und ich denke,
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