Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman
Autoren: Martin Smaus
Vom Netzwerk:
sich zum Flughafen bringen lassen musste.
    Warum bloß konnte er das nicht kapieren, warum nur lief bei ihm alles anders, warum hatte es ihn immer in den Osten gezogen, zu den hundertjährigen Bäumen, zu den Quellen und zu den Bergen, warum musste er immer gegen den Strom schwimmen, allein?
    Eine merkwürdige Zeit war dies, auch die Stadt war merkwürdig, grau und müde wie Ida mit ihren schlaffen Brüsten und den Tränensäcken, und Pilsen hüllte sich in Rauch und Abgase, erstickte im Dauerstau, Pilsen mit seinen bröckelnden Häuserfassaden, der Flugasche und den Bierpfützen auf den Gehwegplatten. Und er, Andrejko, er musste wieder zittern, dass man ihn auf die Straße setzte, nur weil er in diese Wohnung eingezogen war. Dabei war er nirgendwo neu eingezogen, zurückgekommen war er, zurück zu Tibor und Ida, nach Hause   …
    Am Abend zuvor war ein Grüppchen Glatzen in schwarzen Lederjacken von Petrohrad zum Bahnhof gezogen, die Passanten machten ihnen den Weg frei, und die Polizisten, die gerade Strafzettel für falsches Parken verteilten, hoben nicht einmal den Kopf. Nur er, Andrejko, schlüpfte verängstigt in einen fremden Hauseingang und duckte sich dort, während draußen schwere Stiefel donnerten, und das Geschrei |351| der Glatzen die Fensterscheiben erklirren ließ. SIEG, SIEG HEIL, ZIGEUNER INS GAS! In dem Augenblick hätte er nicht ein halbes, sondern ein ganzes Königreich für einen Schlüssel hergegeben, mit dem er die Haustür hätte abschließen können. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liefen ungerührt Menschen mit prall gefüllten Einkaufstüten, sie trugen zusammengeschnürte Weihnachtsbäume, Geschenke, über die Mikulášská-Straße ratterte eine Straßenbahn, in den Schaufenstern blinkten Lichterketten, auf dem Marktplatz drehten und wendeten sich Karpfen in den Bottichen, die Fischhändler in ihren gummierten Schürzen beugten sich über sie, die Polizisten klemmten weiter ihre Strafzettel hinter die Scheibenwischer der parkenden Autos und die Uhr an der Ecke zählte die Adventsminuten ab   …
    Andrejko flüchtete sich an den Fluss, unter den Steg am Papierwerk, und suchte nach einer Erklärung dafür, wer diese Zigeuner sein sollten, für die es hier keinen Platz gab, für die man in den Kneipen Geld sammelte, damit sie ausreisen konnten, oder sie gar nicht erst ins Land ließ: Für Hunde und Zigeuner Eintritt verboten   … Für wen war so ein Schild bestimmt, für Tante Ida und für Tibor? Und das Gas für die kleine Darja?
    Als er nachts über den Mikulášský-Platz nach Hause ging, bekam er vor dem Kiosk einen Wutanfall, mit dem Ellbogen schlug er die Scheibe ein und versuchte, Zigaretten herauszuangeln, durch das Drahtgeflecht kam er aber nicht an sie heran, er zerschnitt sich bloß das Handgelenk, und Erleichterung stellte sich überhaupt keine ein.
     
    Blick dich nicht um, hatte der Engel zu Lots Frau gesagt, damit du nicht umkommst. Blick dich nicht um, flüsterte eine Stimme Andrejko zu, damit du nicht wahnsinnig wirst, |352| sieh nach vorne, auf den Weg. Aber dort vorne, was war das für ein Weg? Sollte ihn einer fragen:
Kaj džas, more?
, Wohin gehst du, Mann?, was würde er ihm antworten? Was hielt ihn auf diesem Weg? Die Angst vor Fesseln, vor der Polizei und vor dem Hunger, die Angst vor dem morgigen Tag? Das war doch keine gewöhnliche Angst, die ihn an diesem Weg festhalten ließ?
    Er brauchte doch so wenig, wie viele seiner Träume hatte er bereits zurücknehmen, was alles in kleine Münze umwechseln müssen? Als er klein war, wollte er in einem weißen Hemd tanzen und bis zu den Sternen fliegen, es gab immer ein Licht, das er vor sich sah, das er erreichen wollte. Heute träumte er von nichts mehr und suchte auch nichts mehr, er brauchte nichts, weder ein gestärktes Hemd noch Geld fürs Karussell, nicht einmal seine Geige brauchte er. Er war müde und kraftlos, er konnte nicht mehr weiter. Gestern hatte er sein Bild im Spiegel erhascht, es hatte ihn gegraust vor dieser gebeugten Vogelscheuche, vor dem fremden und verbrauchten Gesicht mit den Falten, die kreuzweise über sein Antlitz liefen, schnell musste er zur Seite springen, um den Spiegel nicht zu zerschlagen, ihn nicht in kleine Splitter zu zerstampfen, wie es die Tante einmal gemacht hatte, als sie früh morgens von einer ihrer traurigen Kneipentouren nach Hause kam.
    Das alles raubte einem den Verstand   … Deswegen blicken unsere Leute nie zurück, um nicht den Verstand zu verlieren, um nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher