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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman
Autoren: Martin Smaus
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die Jahre zu sehen, die durch die Finger gleiten wie Glasperlen von einem zerrissenen Band. Noch gestern bedeutete ein Jahr sein halbes Leben, und heute rauschten die Jahre an ihm vorbei, und wenn sie vorbeigerauscht sind, sieht die Landschaft auf einmal nur noch leer und öde aus   … |353|
Deš manuša, deš droma
, hatte der alte Laco immer gesagt, zehn Menschen, zehn Wege   … Laco hätte ihm einen Arm um die Schultern gelegt und mit seinen Augen, diesen stechenden und glimmenden Kohlenstückchen, schelmisch gezwinkert, mit der anderen Hand hätte er einen großen Kreis um sich gezogen und gesagt: Gott ist der Weg, Andrejko, alles, was du siehst, ist der Weg   …
    Aber für Andrejko gab es keinen Weg mehr, sein Zug war längst entgleist, holpernd raste er über die Schwellen, versuchte, mit quietschenden Bremsen zum Stehen zu kommen, und hielt irgendwo auf einem toten Gleis inmitten von Feldern an, während durch seinen Kopf andere Züge donnerten und riesige Kristallvasen zerbarsten, die Scherben schnitten ihm scharf ins Fleisch, und er hörte dünne Kinderstimmen rufen und um Hilfe betteln. Und das war alles noch nichts im Vergleich zu der Stille, die sich in ihm ausbreitete, die in ihm schrie, derentwillen er jede Nacht vor der Wand kniete und mit dem Kopf gegen sie schlug, weil er in dieser Stille Darja hörte, die im Schlaf nach ihrer Mama rief,
mamo, o šila   … paňi   …
weil ihr kalt war und weil ihr Bauch wehtat und weil sie durstig war   …
    Immer wieder stand Andrejko auf und zog sie um, trocknete das durchgeschwitzte Laken über der Heizung, machte ihr neue Umschläge und kochte Tee, und wenn die Kleine endlich einschlief, hielt er ihr schwitziges Händchen und wusste nicht, was er tun sollte, um ihr zu helfen, um sie von ihrem Schmerz zu befreien, aber er ahnte, dass es ihm nicht gelingen würde, dass er so wenig, so unglaublich wenig besaß, was er ihr geben konnte   …
    Als er nach einer durchwachten Nacht allmählich wieder zu sich kam, betete er noch kurz um ein Wunder, darum, dass einer den Zauberstab schwingen und Darja aus dem |354| Bett springen oder ihn zumindest anlächeln möge, aber das Mädchen rührte sich nicht, und sein winziger Körper glühte. Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte, er zog der Kleinen trockene Kleider an, wickelte sie rasch in eine Decke und schlüpfte mit ihr auf die Straße hinaus.
    ***
    Das Wartezimmer war voll, und es dauerte lange, bis sie an der Reihe waren.
    Die Versicherungskarte, die Krankenschwester streckte ungeduldig die Hand aus.
    Ich   … es geht ni-nicht um mich   … Andrejko kam ins Stottern. Sie   … das ist m-meine kleine Darja   … sie ist   … krank, er zeigte mit dem Kinn auf das Mädchen auf seinem Arm.
    Kann ja jeder sagen, antwortete die Schwester barsch. Schon mal hier gewesen?   … Die Versicherungskarte, Sie müssen doch ’ne Karte haben   …
    Aber   … ich   …, stammelte Andrejko und wühlte in seinen Taschen, doch die Schwester ließ ihn nicht ausreden: Dann kommen Sie wieder, wenn Sie die Karte gefunden haben. Überhaupt, es ist kurz vor Weihnachten, wir wollen auch mal nach Hause   … Der Nächste!, rief sie.
    Andrejko sah sich ratlos um. Eine Weile war es still im Wartezimmer.
    Sie müssen zur Krankenkasse, erbarmte sich schließlich eine der wartenden Mütter. Andrejko drückte Darja fest an sich. Was für eine Karte, was für eine Krankenkasse, sie braucht doch einen Arzt. Er würde es irgendwo anders versuchen, jetzt musste er nach Hause, die Kleine hatte bestimmt Durst, vielleicht auch Hunger, gestern hatte sie den ganzen Tag nichts gegessen, alles gleich wieder ausgespuckt   …
     
    |355| Langsam ging Andrejko mit Darja nach Hause zurück. Vor dem Haus stand ein Polizeiauto, dem Mann am Steuer war der Kopf auf die Brust gesunken, er war wohl eingedöst. Andrejko schlüpfte in den nächsten Hauseingang, der zum Glück nicht abgeschlossen war, dort verbarg er sich hinter der Tür und wartete, bis das Auto wegfuhr, die Kleine auf seinem Arm zitterte, Andrejko wischte ihr immer wieder den Schweiß von der Stirn.
    Abends wickelte er Darja erneut in ihre Decke ein und steckte ihre Lieblingspuppe in die Jackentasche. Dann rannte er die Treppe hinunter und sah sich vorsichtig um. Auf dem Gehweg lag eine dünne Schicht Schnee, weit und breit war kein Mensch zu sehen, nur die Straßenlampen und ein paar Fenster waren erleuchtet.
    Sie gingen Richtung Hauptbahnhof, durchquerten die Stadt, bis sie
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