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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman
Autoren: Martin Smaus
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nahmen alles und gaben ihm nur die Fahrkarte zurück, damit |342| er verduften konnte, sie tasteten ihn noch rasch ab, und schon schlurften sie davon, die Hände lässig in den Taschen. Der Bahnhofsbetrieb lief weiter, Menschen mit Gepäck eilten an ihnen vorbei, gelangweilte Bullen hingen am Kiosk herum, und der Lautsprecher meldete quäkend: Gleis drei Abfahrt der internationale Schnellzug Dukla nach Košice, Čierna nad Tisou, Lviv und Kiev.
    Fassungslos nahm Andrejko die Kleine auf den Arm und wollte schon gehen, dann aber ließ es ihm keine Ruhe, und er drehte sich um. Keine Lederjacke weit und breit. Vielleicht hatte er das nur geträumt, es war wie ein Albtraum, wie ein Hieb mit einem dornigen Stab kurz vor dem Aufwachen, aber ein paar Schritte entfernt stolperten Menschen über eine Bananenkiste, und das Geld, sein Geld, war weg.

|343| 29.
    Ist das nun unser Haus, oder nicht? Inmitten von Petrohrad zermarterte sich Andrejko den Kopf. Wo waren das Geschrei, der Lärm, die Hunde und die herumtobenden Kinder? Die Fassade hatte einen neuen, farbigen Anstrich, statt der kleinen Fenster im Parterre und des abgeschlagenen Putzes schaute ein riesiges Schaufenster mit Pullovern und Blusen auf die Straße. Aber die Fenster der oberen Stockwerke und die Haustür kamen ihm vertraut vor, sogar unter der schimmernden frischen Farbe, vertraut waren ihm auch die Straßenlaternen, die zwischen den Häusern hingen, die Linden, die Akazien und der mit Steinplatten gepflasterte Gehweg. Andrejko setzte Darja ab und griff nach der Klinke.
    Wie viel Zeit war vergangen, seit er das letzte Mal diese Tür hinter sich geschlossen hatte? Die Tante sah aus wie eine zerknitterte ausgelesene Tageszeitung, sie hatte Tränensäcke unter den Augen, einen herabhängenden Bauch, eine versoffene, rauchige Stimme und traurige, schlaffe Brüste. Sie war heiser und musste sich immer wieder räuspern. Andrejko biss sich auf die Lippen. Es tat ihm alles so leid, sogar die hier verbrachten Jahre, die auf einmal ganz gegenwärtig waren   … Aber auch sie las in ihm wie in einer klaren Quelle, auch sie wusste gleich, woran er dachte, und zuckte mit den Schultern:
Keci phaba, ajci e phabaľin banďol,
wie viele Äpfel der Baum hat, so tief beugt er sich   …
    |344| Und Andrejko schoss die Frage durch den Kopf, wie tief sich dieser Baum überhaut noch beugen konnte   …
     
    Die Wohnung war genauso, wie er sie in Erinnerung hatte, vielleicht noch etwas weiter heruntergekommen, ein säuerlicher Geruch hing in der Luft. Die Tante hatte schon immer ungern gelüftet. Andrejko betrachtete die nachgedunkelten Wände und die Wollmäuse unter den abgeschlagenen Möbeln, er fasste alles an, jeden Schalter probierte er aus, jede Klinke streichelte er. Schließlich ließ er Darja im Badezimmer den Hahn aufdrehen und zeigte ihr den sprudelnden Wasserstrahl. Die Kleine klatschte in die Hände, und Andrejko sagte, warte, das ist noch gar nichts, und zog sie ins Wohnzimmer, wo immer der Fernseher gestanden hatte, der gebrauchte schwarz-weiße, bei dem man ein paar Minuten warten musste, bis die Röhren glühten, aber auf der Kiste mit dem Bettzeug lagen nur Staub und ein Haufen alter Illustrierten. Der Fernseher war weg.
    Und noch etwas fehlte, eines konnte nie wieder sein wie früher.
    Die Tante stach ihm das Messer direkt ins Herz. Anetka   … wo ist sie?
    Wo ist Anetka?, wiederholte sie nach einer Weile, und Andrejko zog den Kopf zwischen die Schultern und heftete den Blick auf den Boden.
    Dort, flüsterte er und deutete vage nach hinten, zur Tür und ins Treppenhaus, von wo er und Darja gekommen waren, dort ist sie   …
    Was macht sie dort? Die Tante ließ nicht locker. Warum ist sie nicht mitgekommen?
    Nichts, was sollte sie denn   … schlafen tut sie   … es geht ihr gut, brachte er mühsam hervor. Als würde man sein Innerstes |345| mit glühendem Eisen versengen. Das   … das ist ihre   … das ist unsere   … Darja, unsere kleine Tochter, fügte er nach einer Weile hinzu und zeigte auf die Tür, hinter der das müde Mädchen schlief. Anetka   … Anetka gibt es nicht mehr   … Und er fing leise zu weinen an.
    Erst jetzt, als Ida sich über ihn beugte, als sie ihm von Nahem ins Gesicht sah, erst jetzt las sie in seinen Augen, was passiert war. Ajajaj   … meine Anetka!, rief sie wehklagend, verstummte aber gleich wieder, und Andrejko wurde bewusst, wie lange es her war, dass er zuletzt Tränen in ihren Augen gesehen hatte, und wie
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