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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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    Mr. Bones hat allen Grund, die Stirn in tiefe Falten zu legen und die Lefzen hängenzulassen: Neben ihm, an einer zugigen Straßenecke in Baltimore, liegt sein zweibeiniger Freund Willy G. Christmas und spuckt Blut. Es geht zu Ende mit dem weltklugen Penner, verrückten Künstler und genialen Schwätzer. Schlimm für Mr. Bones, der jahrelang mit ihm auf Trebe war: Nie wieder wird er Willys durchgedrehte Geschichten über Gott und die Welt hören, nie wieder seine theologischen Haarspaltereien, erotischen Träumereien und philosophischen Sophistereien, die Mr. Bones zu dem gemacht haben, was er ist: ein gewitzter, lebenserfahrener, wenngleich ein wenig melancholischer alter Hund.
    Ob sein Freund jetzt ins Paradies kommt? Willy hat ihm viel von diesem wunderbaren Ort erzählt. Schon der melodische Klang des Namens ließ Mr. Bones die Ohren aufstellen: Das Paradies heißt Timbuktu und beginnt da, wo die Weltkarten aufhören, jenseits des Ozeans und einer großen Wüste. Ein weiter Weg, und bis Mr. Bones dorthin gelangt, um wieder mit Willy vereint zu sein, wird er noch viele Abenteuer zu bestehen haben.
    Mit »Timbuktu« hat Paul Auster eine Tierfabel geschrieben, wie sie nicht im Märchenbuch steht. Mr. Bones sieht die Welt durch die scharfen Augen dessen, der sie stets von unten hat betrachten müssen, und er ist nicht auf den Mund, Pardon, auf die Schnauze gefallen. Seine weisen, in knurrigem Menschisch vorgebrachten Erkenntnisse über das Hundeleben, das wir alle führen, sind um so amüsanter - und trauriger -, als ihnen in ihrem augenzwinkernden Humor jede Sentimentalität fremd ist. Und wer weiß, vielleicht liegt Timbuktu doch nicht so fern, sondern direkt hinter den Seiten dieses Buches.
    Mr. Bones wußte, daß Willys Tage auf dieser Welt gezählt waren. Er trug den Husten nun schon seit über sechs Monaten in sich, und es sah nicht so aus, als würde er ihn je wieder los. Langsam, aber unausweichlich hatte dieser Husten ein Eigenleben angenommen und sich, ohne je besser zu werden, von einem leisen, gurgelnden Rasseln in der Lunge am 3. Februar in den keuchenden Auswurf und die würgenden Krämpfe vom Hochsommer verwandelt. Das war schlimm genug, aber in den vergangenen zwei Wochen hatte sich ein neuer Ton in diese Bronchialmusik eingeschlichen - etwas Festes, Kieselhartes und Schlagendes -, und nun jagte ein Anfall den anderen. Mr. Bones rechnete jedesmal schon fast damit, daß Willy unter dem explosionsartigen Druck gegen seine Rippen die Brust platzen würde. Als nächstes würde es mit dem Blut losgehen, und als dieser verhängnisvolle Augenblick eines Samstagnachmittags schließlich kam, war es, als hätten sämtliche Engel im Himmel auf einmal den Mund aufgetan und zu singen begonnen. Mr. Bones hatte es mit eigenen Augen gesehen, dort am Straßenrand irgendwo zwischen Washington und Baltimore: Willy hustete ein paar jämmerliche Brocken roten Auswurfs in sein Taschentuch, und da wußte Mr. Bones, daß jede Hoffnung zunichte war. Der Hauch des Todes hatte sich auf Willy G. Christmas gesenkt, und das Ende nahte, so sicher, wie die Sonne eine Lampe in den Wolken war, die täglich an- und ausging.
    Was konnte ein armer Hund da schon tun? Mr. Bones war seit seinen frühesten Welpentagen bei Willy gewesen, und eine Welt ohne sein Herrchen schien ihm unvorstellbar. Willy war in jedem Gedanken, jeder Erinnerung, jedem bißchen Erde und Luft präsent. Alte Gewohnheiten sind nicht leicht auszurotten, und auch der Hund ist ein Gewohnheitstier, aber es waren nicht nur Mr. Bones’ Liebe oder Treue, die seine Zukunftsangst verursachten. Es war das blanke ontologische Entsetzen. Eine Welt ohne Willy - da konnte sie genausogut gleich ganz aufhören zu existieren.
    In diesem Dilemma steckte Mr. Bones also an jenem Augustmorgen, als er mit seinem kranken Herrchen durch die Straßen von Baltimore trottete. Ein Hund allein war nicht besser dran als ein toter Hund, und wenn Willy erst seinen letzten Schnaufer getan hatte, konnte er eigentlich nur noch auf sein eigenes baldiges Ende warten. Willy hatte ihm seit Tagen klarzumachen versucht, daß er sich in acht nehmen müsse, und Mr. Bones konnte die Litanei schon auswendig: wie man den Hundefängern und Streifenpolizisten entging, den grünen Minnas und Zivilstreifen, den Heuchlern von den sogenannten Tierschutzvereinen. Egal, was sie einem vorsülzten, das Wort »Tierheim« bedeutete nichts Gutes. Es begann mit Netzen und Betäubungsgewehren, wuchs sich zu einem
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