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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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Halteschlaufen und setzte es ohne nachzudenken an die Lippen.
    Der erste Ton war hoch und schräg, aber schon nach wenigen Augenblicken fand sie wie von selbst die richt i gen Töne. Leise fiel sie in Jammrichs Spiel mit ein. Sie war nicht sicher, was er da spielte, aber ihre Instinkte ließen sie die gleichen Tonfolgen finden wie schon dra u ßen in der Ebene und früher im Lager der Bärentreiber.
    Es war die Melodie hinter der Melodie, daran bestand kein Zweifel, aber sie schien abgeschwächt zu sein, durchsetzt von einfachen Klangmustern, die dem Zauber seine Macht nahmen. Ailis spürte, wie sich in ihrem R ü cken der Zugang der Spielmannswege öffnete, aber er saugte sie nicht fort, schien vielmehr abzuwarten. Auch hinter Jammrich flirrte die Dunkelheit wie ferne Nor d lichter, die ein Streich des Augenlichts näher herang e rückt hatte.
    Das Echo riss den Mund auf, aber wieder drang kein Laut über seine Lippen.
    Nein, dachte Ailis, natürlich singt es, aber die Melodie übertönt es. Sie ist wie ein Schild, der uns umgibt.
    Aber das konnte doch unmöglich schon alles sein! Das Echo würde nicht in Panik verfallen, nur weil sein G e sang w irkungslos blieb. Stattdessen schien es vor den Spie l mannswegen zurückzuschrecken, die sich nun schon an zwei Stellen geöffnet hatten, ohne die Musikanten fortzutragen. So lange Jammrich im Türrahmen stand und auf seiner Sackpfeife spielte, war das Echo im Inn e ren der Kapelle gefangen. Auch an Ailis wagte es sich nicht heran, nun, da auch hinter ihr der Schlund der Spielmannswege klaffte.
    Ailis spielte mit all ihrer Kraft. Sie war nicht geübt genug, um die Flöte wirklich zu beherrschen, und bald schon wurde ihre Atmung unregelmäßig. Immer wieder musste sie das Instrument ein, zwei Herzschläge lang absetzen, um Luft zu holen. Lange kon n te sie nicht mehr so weitermachen. Was immer auch zu tun war, es musste schnell getan werden!
    Fieberhaft rief sie sich ins Gedächtnis, was Jammrich über die Spielmannswege g e sagt hatte. Sie waren endlos, so viel schien sicher, ein Wirrwarr aus Schleifen, die zu allen Orten der Welt führten. Wer kein Meister der M e lodie war, dem drohte die G e fahr, sich darin zu verirren, ohne jemals wieder in die Wirklichkeit zurückzugela n gen.
    War es das, was das Echo fürchtete?
    Aber niemand verstand sich besser auf die Zauberei der Klänge und Töne als das Echo selbst!
    Ailis spielte. Überlegte weiter. Und plötzlich kam ihr noch ein Gedanke, und mit ihm eine Erkenntnis.
    Ein Echo! Natürlich!
    Was war ein Echo anderes als etwas, das aus purem Klang geschaffen war, aus dem Widerhall von Lauten, Geräuschen und Stimmen, dem irgendetwas – vielleicht Götter, vielleicht nur der Zufall – eigenes Leben eing e haucht hatte? In ihm brachen sich Töne und wurden z u rückgeworfen, verzerrt, aber erkennbar.
    Und die Spielmannswege – sie waren selbst nichts als Klange, Gestalt gewordene Musik! Wenn das Echo in di e se Musik hineingeriet und sie sich in ihm brach, i m mer und immer wieder, die ganze endlose Schleife der Spie l mannswege, musste es dann nicht darin gefangen sein?
    Das war es! Die Lösung, endlich!
    Und im selben Augenblick, da sie begriff, was das Echo so fürchtete, nahm sie all ihren Mut zusammen und näherte sich dem Altar. Das Echo wich weiter zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Wand.
    Auch Jammrich verließ seinen Platz im Türrahmen und kam heran, immer darauf bedacht, auf einer Linie zwischen Echo und Ausgang zu bleiben, damit es nicht an ihm vorbeihuschen konnte.
    Ailis schlug einen leichten Bogen, und dann schritten sie von zwei Seiten auf das Echo zu, hinter ihren Schu l tern die wabernden Klangstrudel der Spielmannswege.
    Die Kreatur wich in eine Ecke zurück, rutschte dort in heilloser Panik an der Wand herab. Schützend schlug es die Arme vors Gesicht – noch eine sinnlose Geste, die es den Menschen abgeschaut hatte.
    Zwei Schritte trennten Jammrich und Ailis noch von dem verängstigten Wesen. Hinter den verschränkten A r men konnte Ailis den Mund der Kreatur erkennen, immer noch weit aufgerissen, um ihnen seine tödlichen Gesänge entgegenzuschleudern. In seiner Hilflosigkeit und Ve r zweiflung vergaß es alle Gesetze des Menschseins, riss den Kiefer immer weiter auf, bis die Mundwinkel einri s sen und sich dunkelrote Verästelungen über seine Wa n gen bis zu den Ohren zogen. Und immer noch gab es nicht auf, in der leeren Hoffnung, doch noch den Schut z schild der Melodie zu durchstoßen. Fees
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