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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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grauem, farblosem Fleisch.
    Baan lag auf dem Steinboden vor der ersten Bankre i he. Fee musste unmittelbar n e ben ihm gekniet haben. Wegen seiner Nähe zum Quell des Gesangs war er b e sonders schlimm zugerichtet. Einige andere, die sich in der Reihe hinter Fee befunden hatten, sahen nicht minder schrecklich aus.
    Der Prediger war über dem Altar zusammengebr o chen, mit dem Gesicht nach u n ten. Rund um seinen Kopf hatte sich ein Stern aus getrocknetem Blut ausgebreitet, ein grotesker Heiligenschein.
    Zuletzt fiel Ailis’ Blick auf eine schmale Tür in der Rückwand, links neben dem Altar. Sie war geschlossen, aber man hatte den Riegel nicht vorgeschoben. Ailis musste über drei weitere Tote steigen, um dorthin zu g e langen.
    Sie wollte gerade eine Hand auf den Riegel legen, als die Tür abrupt nach innen g e stoßen wurde.
    »Sieh an«, wisperte das Echo mit blutleeren Lippen, »wolltest du diesen heiligen Ort etwa schon verlassen?« Seine aufgerissenen Augen schienen Ailis wie zwei zah n lose Schlünde verschlingen zu wollen. »Hast du dein Gebet schon gesprochen, Mä d chen?«
    Ailis’ Überraschung währte nur einen Atemzug. Mit einer hastigen Bewegung wollte sie die Klinge hochre i ßen und gegen sich selbst richten, doch diesmal kam ihr das Echo zuvor. Nur eine Armlänge trennte sie vonei n ander, als das Wesen vorsprang, ein Taumel aus weißer Seide und strähnigem Haar. Kraftvoll schlug es Ailis das Schwert aus der Hand. Die Waffe schepperte über den Steinboden, prallte gegen einen Leic h nam.
    Ailis wich zurück, stolperte über einen der Toten und stürzte. Ein kalter Körper dämpfte ihren Aufprall, ihre Hand fasste in etwas Feuchtes, Nachgiebiges. Ihre Finger rutschten aus, ihr Oberkörper sackte nach hinten. Mit dem Hinterkopf schlug sie hart auf den Steinboden.
    Wie lange sie nichts sah außer taumelnden Farbschli e ren und leuchtenden Funken, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Was sie schließlich wieder zur Besinnung brachte, war eine Melodie. Eine, die sie nur zu gut kan n te.
    Ein Jubelruf brauste in ihr auf. Sie hatte gewusst, dass er kommen würde!
    Sie hob den Kopf und schaute sich um. Etwas lag u n ter ihr, ein Leichnam. Der B e reich zwischen ihr und der Hintertür war frei. Das Echo war nicht fort, es war nur einige Schritte zur Seite gewichen, hinter den Altar und den toten Prediger in seiner Aureole aus geronnenem Blut. Es stand da und warf abwechselnd hasserfüllte Bl i cke auf Ailis und die Tür. Das blonde Haar, fettig und verschmutzt, war ihm ins Gesicht gefallen, seine Augen starrten zwischen den Strähnen hindurch wie ein Rau b tier aus dem Unte r holz. Lauernd, gierig nach Beute.
    Im steinernen Rahmen der Hintertür erschien eine u n förmige Silhouette gegen das Dämmerlicht des Abends. Der schwache Lichtschimmer, der durch die schmalen Kapellenfenster fiel, reichte kaum noch aus, die Kont u ren der Leichen aus der Dunkelheit des Bodens zu sch ä len. Nur das Echo in seinem weißen Kleid schien in der Finsternis zu glühen wie eine Heilige auf einem Alta r gemälde.
    Der Umriss blieb in der Tür stehen. Die schnarrenden Klänge einer Sackpfeife hal l ten im Inneren der Kapelle wider. Ailis erkannte den Langen Jammrich, auch ohne in der Finsternis seine Züge sehen zu können. Er schien ihr zuzunicken, konnte aber nicht mit ihr sprechen, ohne sein Spiel abzubrechen.
    Und gerade sein Spiel war es, das das Echo zurüc k trieb, fort von der Tür, in den Schutz des Altars.
    Ailis rappelte sich hoch. Ein stechender Schmerz pochte in ihrem Kopf. Suchend schaute sie sich nach dem Schwert um, vergebens. Das Innere der Kapelle war jetzt zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen.
    Wieder blickte sie zum Echo. Es stand etwa sieben oder acht Schritte von ihr en t fernt und wagte sich aus irgendeinem Grund nicht näher an sie heran. Allerdings schien es nicht wirklich bedroht zu sein, denn dann hätte es längst zurückgeschlagen.
    Es sei denn, dachte Ailis plötzlich, die Melodie schützt einen vor dem Gesang!
    Sie erinnerte sich schlagartig an ihre Flucht aus dem Turmkeller, an Fees Gesicht, als die Musikanten auf dem Vorplatz die Melodie angestimmt hatten. Den Schrecken, die Panik in den Zügen der jungen Frau. Und an ihren aufgerissenen Mund, aus dem kein Ton zu dringen schien.
    Ailis gab die Suche nach ihrer Waffe endgültig auf. Stattdessen tastete sie hastig nach der Schwertscheide auf ihrem Rücken, nach der Flöte, die daran befestigt war. Sie riss das Instrument aus den
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