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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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ebene in die Seidenschleier, wirbelte sie umher wie Schlangen eines Medusenhauptes. Die Augen d es Echos waren weit geöffnet, wie bei einer Wahnsinnigen. Zum ersten Mal fiel Ailis auf, dass sie niemals blinzelten. Sah das Echo überhaupt noch etwas mit diesen Augen, oder war ihre Oberfläche längst ausg e trocknet und erblindet? Ein Scha u der durchlief sie.
    Noch einmal warf sie sich mit einem Ruck gegen das Kapellentor. Es gab ein weit e res Stück nach, kaum mehr als einige Fingerbreit. Aus dem Spalt drang grauenvoller Verwesungsgestank. Nur mit Mühe unterdrückte Ailis den Drang, sich die Nase zuz u halten.
    Der Spalt war noch immer nicht so breit, als dass sie hätte hindurchschlüpfen können. Angesichts des G e stanks war es ohnehin fraglich, wie lange sie sich in der Kapelle würde aufhalten können. Dennoch blieb ihr kein anderer Weg. Sie musste ins Innere.
    Noch zehn Schritte lagen zwischen ihr und dem Echo.
    »Bleib stehen!«, rief sie ihm zu, doch das Wesen g e horchte nicht. Fees große Augen, die einst zahllose Mä n ner in ihren Bann geschlagen hatten, waren jetzt so starr und leblos wie Kugeln aus schwarzem Glas.
    »Du sollst stehen bleiben!«, brüllte Ailis noch einmal und warf sich zugleich ein weiteres Mal gegen die Tür. Der Flügel rückte noch ein Stück nach innen.
    Das Echo gab keine Antwort, als hätte es endgültig die Lust am Reden verloren. Ailis wusste, dass sie ihrer Dr o hung Gewicht verleihen musste. Wenn sie es nicht tat, würde das Echo den Gesang einsetzen. Offenbar nahm seine Bereitschaft zu, die Mö g lichkeit ihres Todes in Kauf zu nehmen.
    Zum vierten Mal krachte ihr Rücken gegen die Tür. Im Inneren polterte etwas, dann gab der Türflügel nach und glitt knirschend mehrere Handbreit zurück.
    Der Spalt war jetzt breit genug. Der Gestank drohte sie z u betäuben, als sie sich mit der Schulter zuerst hi n durchzwängte, bemüht, das näher kommende Echo nicht aus den Augen zu lassen.
    Dann war sie im Inneren der Kapelle. Mit letzter Kraft hämmerte sie den Türflügel wieder nach vorne. Krachend rastete der Riegel ein.
    Gleich würde sich zeigen, ob ihr Plan aufging. Ihr Blick blieb fest auf die Innense i te des Portals gerichtet, während sie in Gedanken die Schritte des Echos zählte.
    Sechs, fünf, vier …
    Ailis’ Fuß stieß gegen etwas Weiches, das hinter ihr am Boden lag. Sie wollte nicht sehen, was es war.
    Drei, zwei, eins.
    Das Echo hätte das Portal jetzt erreichen müssen. Ailis starrte die Klinke an, wart e te angstvoll darauf, dass sie sich bewegte.
    Der Eisenkolben rührte sich nicht.
    Sie sandte ein Stoßgebet an jeden, der bereit war, sie anzuhören. Aber ihr war auch klar, dass sie sich zu früh freute. Das Echo würde nicht einfach aufgeben. Sein G e sang vermochte auch durch die Mauern der Kapelle zu dringen, daran zweifelte sie nicht; die Frage war nur, ob die Wirkung hier drinnen die gleiche war. Ailis hatte nie eine Ve r bundenheit zum Christengott verspürt, ebenso wenig wie zu all den alten Göttern, deren Kulte im G e heimen blühten. Machte sie das verletzlicher, nun da sie sich in die Obhut einer Kirche begab?
    Wenn sie Pech hatte, würde die Antwort auf diese Frage nicht lange auf sich warten lassen.
    Sie nahm all ihre Kraft zusammen und drehte sich um.
    Im Grunde hatte sie geahnt, was sie erwartete; trot z dem übertraf der Anblick ihre schlimmsten Befürchtu n gen.
    Die Kapelle war voller Menschen. Männer, Frauen, Kinder. Alte und junge.
    Alle waren tot.
    Sie füllten die Lücken zwischen den Gebetbänken, zum Teil übereinander liegend, manche sogar noch auf Knien. Arme, Beine und flehend erhobene Hände ragten aus der Masse der Leichen. Jene aber, die gespürt hatten, was mit ihnen geschah, waren in der Minderzahl. Die meisten waren ahnungslos gestorben, versunken in Gebet oder Gesang. Einige hielten sogar jetzt noch die Hände gefaltet.
    Alle hatten blutige Tränen geweint. Ihre Augen waren mit braunen Krusten überz o gen. Ein paar hatten sich in ihren letzten Momenten übergeben, Blutfontänen, die sich über Vorder- und Nebenmänner ergossen hatten. Der Gestank war entsetzlich, und nicht weniger furchtbar war der Anblick des wimmelnden Ungeziefers auf den ve r wesenden Kadavern.
    Ailis senkte ihr Schwert, riss den Arm vors Gesicht und vergrub ihre Nase im Wi n kel ihres Ellbogens. Mit steifen, abgehackten Bewegungen lief sie den Mittelgang entlang, stieg über verkrümmte Tote, ekelte sich vor j e der Berührung ihrer Füße mit
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