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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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ganzer Schädel brach au s einander, als das Echo den Mund weiter und weiter au f riss.
    Jammrich gab mit einem Nicken das Signal zum fin a len Vorstoß. Ailis folgte se i nem Spiel jetzt ohne Mühe. Aus der vagen Tonfolge, die sie bisher gespielt hatten, schälte sich die Melodie hinter der Melodie, klar und rein und gnadenlos.
    Die Klänge rissen sie fort wie die Ausläufer eines Wirbelsturms, hinfort ins Reich der Musik, geronnen zu Farben und Lichtern. Irgendwo vor ihnen trudelte der zerstörte Leib des Echos davon und mit ihm das, was darin gefangen war. Sie sahen, wie sich die Kreatur in Fees Körper entfernte, unfähig, sich den Tönen, die von allen Seiten auf sie einstürmten, zu verweigern, ein vol l kommenes Echo, in dem die Melodie der Spielmannsw e ge auf ewig widerhallen würde, ohne sein Zutun und g e gen seinen Willen, immer und immer und immer.
    Jammrichs Spiel änderte sich und mit ihm das von A i lis, und Augenblicke später waren sie zurück in der Wir k lichkeit, nur sie beide allein.
    Als Ailis langsam zu sich kam, lag sie im weichen Schlamm vor dem Turm, und Jammrich stand neben ihr, in seiner Hand die Zügel ihres Pferdes und über ihr der Schädel des Tieres, seine raue Zunge auf ihrer Haut und in ihren Augen. Endlich e r wachte sie vollends.
     
    Sie versperrten die Türen der Kapelle mit schweren Ke t ten, die sie im Kellergewölbe des Turms gefunden hatten.
    »Ich wusste es nicht«, sagte Jammrich, »wirklich nicht. Ich kam her, um nach dir zu sehen, und als ich euch beide in der Kapelle verschwinden sah, folgte ich dem Echo und begann zu spielen, nur zur Vorsicht, um möglichst schnell verschwinden zu können, falls es nötig sein sollte. Da erst e rkannte ich, welche Angst die Mel o die diesem Mis t stück einflößte.« Er lachte erleichtert, aber ohne echte Heiterkeit. »Ich weiß nicht, was ich g e tan hätte, wenn du die Flöte nicht bei dir gehabt hättest.«
    Ailis blickte sich nicht zu ihm um, als sie ein Vorhä n geschloss durch die Kette n glieder steckte. »Du wärest gestorben«, sagte sie trocken und drehte den Schlüssel herum. »So wie alle anderen.«
    Er nickte stumm und schwieg, während sie sich von dem Grab entfernten, zu dem die Kapelle geworden war. Sie hatten alle Tiere, die noch in den Schuppen gefangen gewesen waren, befreit, auch die Mastsau, die ihre G e fährtinnen zerfleischt hatte.
    »Was ist jetzt mit den Spielmannswegen?«, fragte A i lis, nachdem sie sich im Sattel ihres Pferdes zurechtg e rückt hatte. Sie hatte geschworen, die Wege niemals wi e der zu benutzen, und nicht einmal Jammrich wagte, di e sen Entschluss infrage zu stellen. »Wird das Echo dort nicht einen anderen finden, den es in seine Gewalt bri n gen kann?«
    Der Gaukler schüttelte den Kopf. »Es braucht einen Körper, aber den wird es dort nicht finden. Es gibt nichts Körperliches innerhalb der Spielmannswege, nur Sch e men aus Klängen und Tönen, in die die Melodie uns verwandelt. Außerdem bezweifle ich, dass es dort einen klaren Gedanken fassen kann; die Musik wird in ihm w i derhallen, bis diese und alle anderen Welten längst ve r gangen sind, und selbst dann wird es noch irgendwo Klänge und Töne geben.« Er zog sich in den Sattel eines Schimmels, den sie in einem der Ställe inmitten eines Haferberges entdeckt hatten. »Wenn nicht Titania selbst es befreit, gibt es für das Echo keine Rettung. Und ich bezweifle, dass die Fee n königin es allzu sehr vermisst.«
    »Nicht heute«, meinte Ailis gedankenverloren und tä t schelte den Hals ihres Pfe r des.
    »Nicht heute«, bestätigte Jammrich. »Und morgen ist noch eine ganze Nacht en t fernt – und viele Lieder, wenn du mich fragst.«
    Sie gab keine Antwort, blickte nur zum Nachthimmel empor und horchte hinauf in die Leere zwischen den Sternen. Horchte auf Laute im Nichts, auf Melodien, die ins Nirgendwo führten, Wege, die immer wieder in sich selbst endeten.
    Du kannst es hören, sagte sie sich. Kannst alles hören, was du nur willst. Den Himmel, die Sterne, sogar das, was dahinter liegt.
    Was hätte wohl Fee zu all dem gesagt?
    Frag den Mond, dachte Ailis, frag ihn und horche auf seine Antwort. Er wird dir e i ne geben, irgendwann.
    Frage ihn alles, was du wissen willst. Er kann dich h ö ren, so wie du ihn.
    Horch nur, da! Hör ganz genau hin!

Nachwort des Autors
     
    D er schroffe Berg, den man heutzutage Loreleyfel sen nennt, trägt diesen Namen noch nicht lange. Aus dem Mittelalter sind verschiedene Bezeichnungen
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