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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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wir.«
    Ailis blinzelte ein Träne fort. »Wo ist Baan? Und wo sind all die Menschen, die hier leben?«
    »Sie beten.«
    »Du hast sie getötet.« Kein Vorwurf, nur eine Festste l lung. Ailis war längst über den Punkt hinaus, an dem Anklagen verlockend erschienen, trügerische Mittel, um von der eigenen Schwäche abzulenken.
    Fee ließ die Arme sinken, als hätte sie den Gedanken an ein freundschaftliches Wiedersehen endgültig aufg e geben. Mit Gesten hatte das Echo sich schon immer schwer getan. Es schien ihren Sinn nicht zu verstehen, es imitierte sie nur, wie jemand, der Sätze aus einer fremden Sprache vorliest, ohne ihren Inhalt zu begreifen.
    »Du bist besessen vom Töten, wie mir scheint«, sagte Fee mit finsterer Heiterkeit. »Dieser lästige Aufruhr, den du um alles machen musst, was mit dem Ende der Dinge zu tun hat! Alles endet irgendwann. Alles Sterbliche.«
    »Du nicht?«
    »Nein«, sagte das Echo mit Fees Stimme. »Ich nicht.«
    »Dann weißt du nicht, was das Wort Ende überhaupt bedeutet.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Hast du je das Ende von irgendetwas erlebt?«
    Das Echo überlegte. »Ich sah den Untergang von I m perien. Ich sah unzählige L e ben enden.«
    »Aber was ist mit dir selbst? Bist du je an etwas g e langt, das einem Ende auch nur nahe kam?«
    »Du meinst den Tod?«
    Ailis schüttelte den Kopf »Das Ende eines Weges. E i nes Strebens.«
    Das Echo lächelte böse. »Das Ende einer Freun d schaft.«
    »Du täuschst dich. Fee und ich werden noch Freu n dinnen sein, wenn du längst wieder in irgendeinem Fe l senloch sitzt.« Und plötzlich begriff sie, warum sie unb e dingt hatte herkommen müssen: um zu verstehen, dass Freundschaft etwas war, das den Tod überdauerte. Alles, was dazu nötig war, war die Gewissheit, dass nichts mehr übrig war von jener Fee, die sie geliebt hatte. Nur Fleisch, ein Körper. Das Werkzeug eines Pu p penspielers.
    »Ich wollte immer nur dich«, sagte das Echo und machte einen Schritt nach vorne. Die Seidenbahnen fla t terten jetzt zu beiden Seiten von Ailis’ Gesicht. Sie füh l ten sich an, als streiften eiskalte Atemzüge ihre Haut. »Immer nur dich«, wiederholte das Echo verträumt. »In dir ist so vieles, von dem du nichts ahnst, kleine Ailis. So viel Talent. Wir haben einiges gemeinsam, weißt du das? Dies hier« – es zeigte mit beiden Händen an Fees Körper hinab – »ist nichts dagegen. Nur eine Hülle. Wie ein Kleid, das ihr Menschen anzieht und fortwerft, wenn es verschlissen ist. Ich kann zerstören in diesem Körper, aber ich kann nichts erschaffen. Ich bin gefangen in der Vernichtung.«
    Ailis handelte aus purem Instinkt. Ehe das Echo sie abhalten konnte, hatte sie das Schwert in ihrer Hand he r umwirbeln lassen und setzte die Spitze unter ihr eigenes Kinn.
    »Du willst meinen Körper?«, fragte sie und schaute dabei so kalt und gehässig, wie sie nur konnte. »Vie l leicht wirst du früher erfahren, was es bedeutet, tot zu sein, als du denkst. Bist du je in einen Leichnam gefa h ren? Wie fühlt es sich an, in etwas lebendig zu sein, das selbst nicht mehr lebt? Du kannst es erfahren, wenn du willst.«
    Das Echo ließ Fee die Augenbrauen heben, ein Au s druck höflichen Erstaunens. Es wirkte nicht wirklich überrascht. »Du weißt, dass du mich nicht überlisten kannst, nicht wahr? Es steckt so manches in dir, Mä d chen, aber das nicht!«
    Ailis drückte die Klinge entschlossener in ihr Fleisch, bis der Schmerz ihren ganzen Unterkiefer entflammte. Sie vermutete, dass sie blutete, konnte aber nichts sehen. Blut wäre nicht schlecht, dachte sie kühl, es würde das Echo von ihrer Ernsthaftigkeit übe r zeugen.
    Aber war sie das denn überhaupt – ernsthaft? Würde sie sich wirklich selbst töten, wenn das Echo näher k ä me?
    Obwohl sie sich wehrte, gaukelte ihr Hirn ihr vor, was geschehen würde: Die Kli n ge würde erst ihre Haut durchstoßen, dann in ihren Rachen fahren, die Zunge an der Wurzel durchbohren, ihren Gaumen zertrümmern, um endlich – wenn sie dann noch in der Lage war, weiter zuzustoßen – ihr Gehirn aufzuspießen.
    Und das sollte sie sich selbst antun?
    »Ich tue es«, flüsterte sie entschlossen, nicht nur um das Echo, sondern auch um sich selbst zu überzeugen. »Lieber sterbe ich, als das gleiche durchzumachen wie Fee!«
    »Es hat ihr gefallen, glaub mir«, entgegnete das Echo. »Sie hat viel Neues durch mich entdeckt. Du hättest sie sehen sollen, dort drüben, nur eine Kammer weiter, mit Baan im Bett. Es steckte
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